Die Tapferkeit

Die Tugend, die der Furcht nicht nachgibt


Als „feige Bande“ wurden sie beschimpft und verurteilt, heute – mehr als 60 Jahre später – gelten sie über Deutschlands Grenzen hinaus als Symbol für Tapferkeit und Zivilcourage: die Mitglieder der „Weißen Rose“, jene Widerstandsgruppe der Münchener Studentenschaft, die sich aus Überzeugung gegen die Nazidiktatur stellte, ungeachtet der Gefahren für Leib und Seele. Selbst als der Jüngsten der Gruppe, Sophie Scholl (1921-1943), vom Gestapobeamten, der ihren Fall untersuchte, eine „goldene Brücke“ gebaut wurde, nahm sie diese nicht an. Sie sollte ihren Bruder Hans (1918-1943) beschuldigen, der alleinige Initiator aller Flugblätter gewesen zu sein. Sie selbst jedoch hätte als „dummes Mädchen“ nicht gewusst, was sie tat. Sophie Scholl lehnte diesen Fluchtweg ab, weil er nicht der Wahrheit entsprach. Tapfer ging sie wenige Tage später, am 23. Februar 1943, zum Schafott.

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1.  Für seine Überzeugung kämpfen

Die Kardinaltugend Tapferkeit, so erklären es uns die alten griechischen Philosophen Platon (427-347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.), ist die Fähigkeit, als Einzelner oder als Gruppe einer schwierigen Situation entgegenzutreten, meist mit der Überzeugung, für etwas Übergeordnetes zu kämpfen. Tapferkeit äußert sich als Zivilcourage, das heißt im konsequenten, aufrechten und aktiven Vertreten einer ethisch als richtig erkannten Überzeugung, auch wenn man dafür soziale oder wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen muss.
Der christliche Theologe Thomas von Aquin (1225-1274), der es meisterhaft verstand, die Erkenntnisse der antiken Philosophie und Ethik in die christliche Lehre einzufügen, spricht bei der christlichen Tapferkeit von der Bereitschaft des Menschen, sich für die christlichen Werte, Grundhaltungen und des sittlich als gut Erkannten einzusetzen, ungeachtet der Schwierigkeiten, die sich dadurch ergeben können.
Christliche Tapferkeit bedeutet nicht, sich vor nichts und niemandem fürchten zu dürfen, wohl aber ist sie jene Tugend, die der Furcht nicht nachgibt, wenn es darum geht, seiner christlichen Überzeugung zu folgen. Ein Wort Jesu ist dabei das Motto christlicher Tapferkeit: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann“ (Mt 10,28). Die herausragenden Vorbilder christlicher Tapferkeit sind die Märtyrer aller Jahrhunderte, die trotz Lebensgefahr ihren Glauben mutig bekannten und dafür zu sterben bereit waren.

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2.  Falsche Tapferkeit

Dennoch ist Tapferkeit sehr wohl von Kühnheit und Wagemut zu unterscheiden. Diesen Unterschied machte auch schon Aristoteles, für den jede Tugend einen Mittelweg zwischen zwei Extremen darstellte. Die Tapferkeit siedelte er deshalb in der Mitte zwischen tollkühnem Draufgängertum und der Feigheit an.
Falsche Furchtlosigkeit, ungezügelte Verwegenheit, Vermessenheit, Ehrgeiz und Ruhmsucht stehen der Tugend Tapferkeit entgegen. Der Soldat, der sich tollkühn in die Schlacht wirft, um sich damit einen Tapferkeitsorden zu verdienen, handelt demnach höchstens tollkühn, aber nicht tapfer. Ebenso der Extremsportler, der mit Wagemut sämtlichen Gefahren für sein Leben und seine Gesundheit trotzt.
Der heilige Franz von Sales (1567-1622) bringt ein Beispiel aus seinem eigenen Leben, an dem ebenso klar wird, dass tollkühnes Verhalten nicht mit Tapferkeit gleichzusetzen ist. Er war offiziell Fürstbischof von Genf, musste allerdings in der Stadt Annecy, etwa 70 Kilometer südlich von Genf gelegen, im Exil leben, weil die Calviner innerhalb der Stadtmauern keine Katholiken duldeten, schon gar keinen katholischen Bischof. Franz von Sales stand demnach als Fürstbischof von Genf auf der calvinischen „Watchlist“ sozusagen an erster Stelle. Er war der Erzfeind Nummer 1. Eines Tages musste Franz von Sales in den Landesteil Gex reisen. Die kürzeste Route dorthin führte über die Stadt Genf, die sicherere, jedoch viel längere Strecke umkreiste die Stadt der Calviner. Wagemutig beschloss Franz von Sales, den kürzesten Weg zu nehmen, noch dazu verstellte er sich am Stadttor keineswegs, sondern behauptete offen und kühn, dass er der Fürstbischof von Genf sei und die Stadt durchqueren wolle. Weil die reine Wahrheit oft das beste Täuschungsmittel ist, ließ man ihn passieren und ungeschoren durch die Stadt reiten. Kurze Zeit später gab es in Genf ein Donnerwetter, als bekannt wurde, dass der katholische Bischof problemlos die Stadt durchqueren konnte. Franz von Sales selbst berichtete über dieses Abenteuer in einem Brief und bezeichnete seine Tat als „Kühnheit“, in der „mehr Einfalt als Klugheit“ war. Er schrieb: „Als ich neulich nach Gex reiste, kam mir der Gedanke, durch Genf zu reiten …; das war für mich der kürzeste Weg. Ich tat es ohne alle Furcht, mit einer gewissen Kühnheit, in der mehr Einfalt als Klugheit war“ (DASal 8,147).
Ähnlich dachte Franz von Sales später über seine kühne Vorgehensweise als Missionar im Chablais, einem Landstrich südlich des Genfer Sees. Dort trat er als frischgebackener Priester furchtlos für den katholischen Glauben ein und entging dabei nur knapp so manchem Mordanschlag. Er war bereit das Martyrium zu erleiden, wenn es ihm damit gelänge, die Calviner des Chablais zum katholischen Glauben zurückzuführen. In einer Vision wurde ihm jedoch deutlich gemacht, dass Gott von ihm zuallererst nicht das Martyrium des Blutes, sondern das Martyrium der Liebe verlangen werde. Er solle daher nicht aus Tollkühnheit sein Leben aufs Spiel setzten, sondern tapfer Zeugnis für die Liebe Gottes ablegen, in allen Gelegenheiten, die das Leben bietet.

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3.  Die Tapferkeit des Bürgers

Tapferkeit hat also weniger mit dem Grad der Gefahr zu tun, der man sich aussetzt, sondern vielmehr mit der Überzeugung und der Wertorientierung, für die man sich einsetzen will. Es geht also um die Frage, wofür setze ich mich ein und ist dieser Einsatz auch das Risiko Wert, das ich dafür eingehe. Wenn es notwendig ist, für diese Überzeugung einzutreten und zu kämpfen, selbst wenn dies gefährlich ist, dann und nur dann handelt es sich um die Tugend der Tapferkeit. Sehr deutlich macht dies der Begriff „Zivilcourage“ – „die Tapferkeit des Bürgers“ –, der sich für die Werte und Rechte des Menschen einsetzt, wenn diese mit Füßen getreten werden.
Ein besonders krasser Fall von Feigheit und damit mangelnder Zivilcourage ereignete sich im Oktober 2006 in einer Stadt in Südafrika, als ein Mann in einem öffentlichen Bus eine Frau vergewaltigen konnte, ohne dass irgendein anderer Insasse noch der Busfahrer irgendetwas dagegen unternahmen. Wegschauen, Mundhalten, Weghören – sind also dann, wenn Menschenrechte und Werte verletzt werden, Ausdruck von Feigheit und der Tugend der Tapferkeit völlig entgegengesetzt.

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4.  Geistliche Tapferkeit

Der heilige Franz von Sales kennt nun in seinen spirituellen Ausführungen auch den Begriff der „geistlichen Tapferkeit“. Es ist die Tapferkeit des Alltags und des einfachen Menschen in den einfachen Situationen des menschlichen Lebens.
Die Tugend der Tapferkeit ist also nach Meinung des hl. Franz von Sales nicht nur in gefährlichen Ausnahmesituationen eine sehr nützliche Tugend, sondern auch im ganz normalen Alltag des ganz normalen Christen. Franz von Sales verwendet zur Erklärung der „geistlichen Tapferkeit“ ein sehr sprechendes Bild aus dem Tierreich. Normalerweise, so schreibt er sinngemäß, haben wir Menschen Angst vor Wölfen und Bären, nicht aber vor Mücken. Normalerweise halten wir jene Menschen für besonders tapfer, die mit Wölfen und Bären kämpfen, nicht aber jene, die sich mit Mücken herumplagen. Im geistlichen Leben jedoch ist für den Kampf gegen die Mücken genauso Tapferkeit notwendig.
In unseren Breiten besteht derzeit kaum die Gefahr, wegen des Glaubens politisch verfolgt und zum Tod verurteilt zu werden. Der ganz normale Alltag bietet jedoch genügend kleine Herausforderungen, in der wir tapfer zu unseren Überzeugungen stehen können und auch sollen.
Tapfer kann ein Christ zum Beispiel sein, wenn er zu seiner Glaubensüberzeugung steht, auch wenn er dafür ausgelacht wird. Inmitten einer Gesellschaft, die gegen die Kirche spottet, seine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass man diese Meinung nicht teilt, das ist tapfer. Inmitten des Freundeskreis, der am Sonntag etwas gemeinsam unternehmen will, ohne dabei einen Sonntagsgottesdienst einzuplanen, zu sagen, dass die Eucharistiefeier ein wesentliches Element des Sonntags ist und man daher nicht mitmachen könne, das ist tapfer. Oder jeden Tag neu gegen seine eigenen Schwächen und Fehler anzukämpfen, auch wenn ich weiß, dass es mich Mühe kostet und es schwer sein wird, einen Sieg zu erringen, das ist geistliche Tapferkeit. Und in diesem Kampf schöpft der Christ Kraft aus dem Glauben: „Alles kann, wer glaubt“, sagt Jesus (Mk 9,23).

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5.  Die Tapferkeit des Alltäglichen

Aufgrund dieser „geistlichen Tapferkeit“, die sich im ganz normalen Alltag bewährt, konnte der hl. Franz von Sales den hl. Josef als Vorbild an Tapferkeit beschreiben (vgl. DASal 2,300), obwohl dieser nie als besonders wagemutig oder furchtlos in Erscheinung trat und auch nicht das Martyrium erlitt. Die Tapferkeit des hl. Josef war die Tapferkeit des Alltäglichen. Er glaubte an Gott und daran, dass Jesus Christus der Messias ist. Er sorgte für diesen Jesus wie für sein eigenes Kind und schützte ihn wie sein eigenes Leben, auch auf die Gefahr hin, dass er sich dadurch den Spott und Hohn seiner Umgebung einhandelte.
Tapfer waren für Franz von Sales auch jene, die sich von alltäglichen Sorgen und Nöten, dem Kummer und Leid nicht unterkriegen ließen, sondern mutig weiterlebten und die Hoffnung trotz allem nicht aufgaben. Eine junge Witwe versetzte ihn „in Staunen“, weil er „in ihrem Schmerz so viel Liebe zu ihrem verstorbenen Gatten“ sah „und so viel Tapferkeit im Ertragen des Kummers über seinen Tod“ (DASal 8,278).
„Haben Sie nur guten Mut und feste Hoffnung“, schreibt Franz von Sales daher immer wieder in seinen Seelsorgsbriefen, „das ist alles, was Sie augenblicklich brauchen … Mit dem Geist einer ruhigen Tapferkeit aber werden wir mit Gottes Hilfe dieses gute Vorhaben durchführen“ (DASal 7,262).
Der alltägliche Kampf mit den großen und kleinen Schwierigkeiten des Lebens ist also das Feld, in dem wir die Tugend der Tapferkeit üben können. Sich diesen „Mücken“ tapfer entgegenstellen ist die Herausforderung des Christen im ganz normalen Alltag. Dort kann er seine Tapferkeit immer zeigen und sie so weit trainieren, dass er dann, wenn es einmal wirklich drauf ankommt, weder wegschaut, noch weghört oder den Mund hält. Damit erleiden wir vielleicht nicht das Martyrium des Blutes, werden jedoch mit ziemlicher Sicherheit zu Zeuginnen und Zeugen der Liebe, die Gott ist (1 Joh 4,8).

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6.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Glaube ich, dass ich tapfer bin?
  • Welche Herausforderungen zur Tapferkeit bietet mir mein Alltag?
  • Wann habe ich den Mund gehalten oder weg geschaut?

Herbert Winklehner OSFS


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