Das Ertragen oder die Duldsamkeit -

die Tugend, an der niemand vorbei kommt

Es gibt eine Tugend, an der wahrscheinlich kein Mensch vorbei kommt, ob er nun will oder nicht, da kein Mensch vollkommen ist. Diese Tugend ist das „Ertragen“ oder die „Duldsamkeit“. Worum geht es bei dieser Tugend?


1.  Der Mensch und seine Schwächen

flickr:Hummel

Ein berühmtes und nachdenkenswertes Wort des heiligen Kirchenlehrers Franz von Sales lautet: „Unsere Vollkommenheit besteht zum großen Teil darin, dass wir einander in unseren Unvollkommenheiten ertragen“ (DASal 7,26). Das heißt: Jeder Mensch hat eben seine Schwächen und Fehler und manche davon sind gar nicht oder nicht so leicht auszumerzen, selbst wenn wir das noch so intensiv wollen und versuchen. So manches im Leben ist einfach nicht zu ändern, selbst wenn wir uns noch so anstrengen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als gewisse Tatsachen einfach hinzunehmen. Das ist jedoch eine gar nicht so leichte Aufgabe, vor der wir uns liebend gerne drücken würden, wenn wir könnten.
Der heilige Franz von Sales meint daher: „Lieben Sie die heilige Tugend der Duldsamkeit, denn nur so, sagt der hl. Paulus (Gal 6,2), werdet ihr das Gesetz Jesu Christi erfüllen“ (DASal 6,34). Denn Jesus sagt: „Wer mein Jünger sein will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich, und folge mir nach“ (Mt 16,24).
Diese täglichen Kreuze sind nicht in erster Linie schwere Schicksalsschläge, wie wir vielleicht meinen könnten. Es geht nicht um das Ertragen von großem Leid und Schmerz oder gar von Katastrophen oder ähnlichem, sondern um die alltäglichen kleinen Sorgen und Unannehmlichkeiten, die uns in uns selbst und bei anderen jeden Tag begegnen können.

nach oben


2.  Die täglichen Sorgen

Das beginnt beim Aufstehen am Morgen, wenn ich noch liebend gerne eine Weile im Bett verbringen würde, obwohl ich zur Arbeit muss oder die Kinder zu versorgen habe. Es endet in der Nacht, in der ich schlecht oder gar nicht schlafen kann, weil mir irgendetwas durch den Kopf geht, das mir den Schlaf raubt.
Dazwischen ist der ganz normale Alltag. Da gibt es Aufgaben, die erledigt werden müssen, obwohl wir gar keine Lust dazu haben. Da läutet das Telefon zum ungünstigsten Zeitpunkt und jemand möchte, dass ich ihm zuhöre, obwohl ich gar keine Zeit dazu habe. Da gibt es Menschen, denen wir begegnen müssen, obwohl wir sie gerade jetzt eigentlich am liebsten gar nicht sehen möchten. Da gibt es Fehler, die man an sich feststellt, gegen die man immer und immer wieder ankämpft, die einen aber trotzdem immer wieder einholen. Und da gibt es diese kleinen Gebrechen in Körper und Seele, die einen piesacken und ärgern, die zwar nicht lebensbedrohlich, aber doch unangenehm sind.
Manchen Menschen fällt es schwer das Älterwerden anzunehmen, die Tatsache also, dass man nicht mehr so fit ist wie noch vor wenigen Jahren, dass man plötzlich bei Dingen auf Hilfe angewiesen ist, die man früher problemlos alleine bewältigt hat. Andere wiederum sind mit ihrem Äußeren nicht zufrieden, oder mit ihrer Lebenssituation, so wie sie ist. Sie meinen, dass es die anderen besser getroffen haben. Diese „Anderen“ haben die bessere Figur, das bessere Aussehen, die bessere Kondition, den besseren Beruf, die besseren Kinder, den besseren Partner, das bessere Glück usw. Das ständige Ankämpfen gegen all diese kleinen Dinge kann irgendwann tatsächlich zur Katastrophe führen.

nach oben


3.  Methode zum Glücklichwerden

Der österreichische Psychotherapeut Paul Wazlawik (*1921) nennt dies die erfolgreichste Methode, um unglücklich zu werden: Ich nehme mir bei jeder Kleinigkeit vor, dass es der andere immer besser hat als ich. Zunächst fühlt man sich nur irgendwie unzufrieden, dann unglücklich und schließlich kann diese Methode zu einer ausgewachsene Depression führen, wenn man nicht früh genug lernt, jene Tugend des Ertragens oder der Duldsamkeit mit sich und seinen Unvollkommenheiten zu üben. Die Tugend des Ertragens macht nicht unglücklich, sondern kann jemanden nicht nur zu mehr Zufriedenheit sondern sogar zu ungeahnten Kräften verhelfen. In etwa so wie ein Sportler, der seine Muskeln trainiert und stählt, in dem er sie eben großen Anstrengungen aussetzt.
So erzählt es die Geschichte von der Palme, der ein böser Mensch in noch ganz jungen Jahren einen Stein auf die Krone setzte. Zuerst versuchte die Palme den Stein abzuwerfen, was ihr jedoch nicht gelang. Dann war sie eine Zeitlang völlig deprimiert und wollte am liebsten zu Grunde gehen. Dann aber lernte sie den Stein anzunehmen und zu ertragen. Schließlich nach vielen, vielen Jahren kam der böse Mann wieder an die Stelle, an der die damals noch junge kleine Palme stand. Er stellte mit Erstaunen fest, dass sie zur größten Palme der ganzen Umgebung geworden war, weil sie durch das Ertragen des Steines gezwungen war, ihre Wurzeln tiefer in die Erde zu bohren als die anderen Palmen.

nach oben


4.  Die Kreuze des Alltags

Der Rat des heiligen Franz von Sales, täglich das Ertragen der Unvollkommenheiten zu üben, ist daher ein sehr weiser und guter: „Gefällt es Gott, uns zur Vollkommenheit der Engel zu erheben, dann werden wir auch gute Engel sein. Vorläufig aber üben wir uns … im Ertragen unserer Fehler“ (DASal 1,112). Das heißt: Vorläufig üben wir uns darin, uns so anzunehmen wie wir sind, mit unseren Stärken genauso wie mit unseren Schwächen. Und wir tun dies, in dem wir jene „Kreuze“ des Alltags annehmen, die uns begegnen. Franz von Sales ist davon überzeugt, dass Gott kein böser Mann ist, der uns bewusst irgendwelche Steine in den Weg legt, um uns zu quälen, sondern dass er sehr wohl darauf achtet, dass unsere Kreuze weder einen Millimeter zu lang, noch ein Gramm zu schwer sind. Er hält es mit jener Legende, in der sich ein Mensch bei Gott beschwert, dass sein Kreuz, das er zu tragen hätte, viel zu schwer ist, und die anderen immer die leichtern Kreuze zu tragen hätten. Also führte ihn Gott in einen Raum, in dem eine große Anzahl von Kreuzen stand. Gott erlaubte dem Menschen, sich sein Kreuz selbst auszusuchen. Der Mensch ging die einzelnen Kreuze durch. Das eine empfand er als zu groß, das andere als zu klein. Schließlich entschied er sich für ein Kreuz, das ihm genau angemessen erschien, nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer. Er zeigte es Gott und meinte, damit wäre er zufrieden. Und Gott lächelte, weil sich der Mensch genau das Kreuz ausgesucht hatte, das er bisher auch schon getragen hatte.

nach oben


5.  Der Blick auf das Kreuz

Es ist ein Unfug zu meinen, die anderen hätten es immer besser erwischt. Viel besser ist es, die Tugend des Ertragens zu üben und sich selbst so anzunehmen wie man ist und das Beste daraus zu machen. Als Hilfe für das Ertragen verweist Franz von Sales auf das Beispiel Jesu: „Denke oft daran, dass der Heiland uns durch Leiden und Dulden erlöst hat; auch wir können unser Heil nur wirken durch … geduldiges Ertragen der Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Unannehmlichkeiten“ (DASal 1,113). Der Blick auf das Kreuz, auf Leiden und Sterben Jesu mag uns zeigen, dass selbst schwere Kreuze und schlimmste Leiden durchaus ihren Sinn haben und in irgendeiner Form zur Auferstehung führen können. Der Blick auf das Kreuz mag uns helfen, unsere eigenen Kreuze leichter zu ertragen und die Tugend der Duldsamkeit zu üben.

nach oben


6.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Welche Unannehmlichkeiten des Alltags stören mich?
  • Bin ich bereit, meine täglichen Kreuze anzunehmen?
  • Hilft mir der Blick auf das Kreuz Jesu?

Herbert Winklehner OSFS


nach oben | Übersicht A-Z