Salesianische Zweimonatsschrift "Das Licht"
Ausgabe 6 - November/Dezember 2000

 

P. Ferdinand Karer OSFS

Der Faden des Königs


In Knossos auf der Insel Kreta steht ein Labyrinth.

Und das Labyrinth wurde gebaut, so die minoische Mythologie, weil ein gewaltiges Ungeheuer die Insel bedrohte. Minotauros: halb Mensch, halb Stier. Dieses Ungeheuer wütete, verschlang Menschen um Menschen. Der König von Kreta, Minos, ließ nun dieses Labyrinth errichten und trieb das Ungeheuer hinein. Das Ungeheuer schrie nach Nahrung und brauchte jährlich neun junge Männer und neun junge Frauen.

Es war die Aufgabe von König Minos, dafür zu sorgen, dass der Hunger des Ungeheuers gestillt wurde, und er begann Kriege zu führen. So auch gegen Athen. Die ganze Stadt würde verwüstet werden, wenn die Athener nicht jährlich die von Minotaurus geforderten Menschen zur Verfügung stellten.
Theseus, der König von Athen, war verzweifelt und er sagte sich: Ich opfere mich selbst. Ich gehe selbst ins Labyrinth. Ich gehe ins Labyrinth, in der Hoffnung, das Ungeheuer zu bändigen, zu töten.

Theseus machte sich auf nach Kreta. Vielleicht wusste er, wie das Ungeheuer zu bändigen war, keinesfalls aber wusste er, wie er aus dem Labyrinth, aus diesem unendlichen Irrgarten wieder herauskommen sollte. Aber er wollte für seine Stadt Heil. Und auf Kreta angekommen, begegnete er Ariadne. Sie war die Tochter des Königs von Kreta.
Ariadne gab ihm das Ende eines roten Fadens, der zu einem Knäuel gewickelt war. Theseus konnte ins Labyrinth gehen und hatte die Gewissheit, wenn er im Zentrum des Labyrinths das Ungeheuer bändigen könnte, würde ihm der Faden wieder den Weg zurück in die Freiheit oder in die Arme der Ariadne sichern.
Und er ging diesen dunklen, verzweigten, ewig sich in der Richtung ändernden Weg nach INNEN, er ging den einsamen Weg ins Dunkle, hielt sich aber am Faden fest. Im Zentrum traf er auf das Ungeheuer, tötete es und ging durch den Faden geleitet, durch den sicheren Faden, an dessen anderem Ende er Ariadne wusste, wieder nach draußen, ins Licht, in die Freiheit, in die Arme Ariadnes.
Und draußen angekommen, wusste er: "Der Faden hat nicht nur mein Leben gerettet, sondern den Faden hat mir Gott geschenkt, der Faden hat mich mit Ariadne verbunden."

Es ist der Faden, der Liebe genannt werden kann. Der Faden, an dem mein Glaube hängt, der Faden, der mich hoffen lässt, der Faden, so dünn er auch erscheinen mag, es ist der einzige Faden, der allem standhält.
Dieser Faden ist Sakrament: Er ist ein heiliges Zeichen der Liebe.

Und wenn man in Knossos steht und mit dem Führer in der Hand durch die Ausgrabungsstätte geht, so kommt man gleich nach dem Eingang zu einem Altar. Er wird der Opferaltar genannt. Ich habe mir gedacht, als ich dort gestanden bin: Das hier ist kein Opferaltar mehr. Spätestens durch den Faden der Ariadne ist aus dem Opferaltar ein Altar der Liebe geworden. Ein Altar der "Communio", ein Altar der Gemeinschaft untereinander und damit der Gemeinschaft mit Gott.

Dieser rote Faden heißt ganz einfach Gott. Er ist es, der zusammenhält. Er ist es auch, der letztlich die Gewissheit einer Freiheit im Vertrauen schenkt. Wir irren nicht im Trüben und Dunklen, sondern haben die Sicherheit, dass es da einen Faden gibt. Und der Faden reißt nur dann, wenn wir ihn auslassen. Es wird auf unseren Lebenswegen auch Wege geben, die nur in Einsamkeit gegangen werden können. In der Geschichte ist das der Weg nach INNEN, haben wir den Mut, auch diese Wege zu gehen, auch wenn sie scheinbar auseinander führen. Der Faden, oft unsichtbar, verbindet. Und neben dem Mut haben wir vor allem die Kraft, den Faden nicht zu verlieren oder auszulassen, auch wenn wir das andere Ende nicht sehen. An diesem Faden zeigt sich mein Vertrauen.


P. Ferdinand Karer ist Oblate des hl. Franz von Sales und Lehrer am Gymnasium in Dachsberg, Oberösterreich

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