Zur Weihnachtsvigil

(Entwurf) Annecy, 24. Dezember 1613 (OEA VIII,124-129; DASal 9,158-160)

Die Kirche bietet alles auf, um die Großartigkeit eines bevorstehenden Festes anzukündigen; das beweist die Liturgie der Adventzeit. Unter anderem bedient sie sich im Introitus der heutigen Messe der ein wenig abgewandelten Worte, mit denen Mose (Ex 16,6f) den Israeliten den Manna-Regen ankündigte: „Heute sollt ihr wissen, daß der Herr kommt, und morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen.“ Berichte die Geschichte bis zu den Worten des Mose (und erwähne nebenbei das Murren der Söhne Israels, die gern aus Ägypten ausgezogen sind, wie die meisten Ordensleute aus der Welt, wenn sie aber in der Wüste, d. h. einsam sind, murren und sich der Fleischtöpfe der Welt erinnern): Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, und morgen werdet ihr die Herrlichkeit des Herrn sehen. Mit diesen Worten gibt die Kirche zu verstehen, daß Christus dem Manna gleicht, uzw. 1. in seiner Geburt, 2. im Geschmack. Daher werde ich über zwei Dinge sprechen: ich werde 1. das Geheimnis der Menschwerdung kurz erklären, 2. wie wir alle dieses Geheimnis auskosten müssen, am meisten ihr Schwestern.

Zum ersten Punkt bemerke ich nur drei Dinge 1. Nach Lev 11,9 fiel das Manna unsichtbar in der Nacht vom Himmel. So wird Christus heute in der Nacht geboren, unsichtbar, auf eine Weise, die dem menschlichen Geist unbegreiflich ist. Er kommt ganz vom Himmel, auch der Leib. Wenn auch der Stoff von der seligsten Jungfrau genommen ist, so ist er doch durch die Kraft des Allerhöchsten und durch die Überschattung des Heiligen Geistes gebildet. Er wird auf himmlische Weise geboren, wie das Licht aus dem Himmel hervorgeht und das ewige Wort vom Vater. Das Manna schmolz im Licht der Sonne und verhärtete sich im Feuer; ebenso ist es mit diesem Geheimnis: wer sich darin im himmlischen Licht vertiefen will, dem wird es flüssig, für die natürliche Neugierde verhärtet es sich.

2. Das Manna schien aus zwei Substanzen zu bestehen: Olivenbrot, das von der Erde stammt, und Honig, der vom Himmel ist. Jes 45,8:Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab; die Erde öffne sich und sprosse den Erlöser. Die göttliche und menschliche Natur vereinigend ist Christus einer, wie es ein Manna war.

3. Das Manna kam als Speise der Menschen; so auch Christus. Daher wurde er in Betlehem geboren, d. h. Haus des Brotes. Er ist Speise in der Eucharistie, ebenso mystisch Speise des Herzens für alle Menschen. Daher Lamm, daher Honig.

Um aber zum zweiten Punkt zu kommen: Diese Geburt Christi oder Christus als Kind gefällt allen, die es wollen. Er gefällt den Hirten, weil er Hirte ist, den Königen als König, dem Simeon als Priester, der Prophetin Hanna als Prophet; er gefällt in der Tat allen. Am meisten entspricht er den Frommen, den Religiosen und Oblatinnen, weil er selbst fromm, religiös und hingegeben ist. Daher verehrten vor allem drei Ordensväter dieses Geheimnis besonders: Augustinus: „Hier werde ich aus der Fülle genährt“; Bernhard, der diese Geburt in einer Vision schaute; Franziskus, wie alle wissen.

Sehen wir, welche Eigenschaften der Ordensleute dieser kleine Knabe besitzt. 1. Über die Keuschheit gibt es keinen Zweifel. Hld 2,16: Er weidet unter Lilien. Wenn er auch keine Gelübde abgelegt hat, so hat er doch tatsächlich die Hingabe vollzogen.

2. Armut. Seht doch, wie arm er ist. Armut der Wohnung, Armut der Kleidung, Armut der Nahrung: „Mit ein wenig Milch wird der genährt, der nicht einmal die Vögel hungern läßt“ (Hymnus am Weihnachtsfest). Er nennt nichts sein Eigen. Niedrigste Armut. Dränge sehr nachdrücklich auf diese Erwägung: nackt ist er auf Erden erschienen, wie die hl. Birgitta sagt.

3. Gehorsam. Er besitzt den Gebrauch der Vernunft und unendliche Weisheit; trotzdem läßt er sich in Windeln wickeln, mit Bändern schnüren und legen, wohin die Mutter oder der Vater wollen. Er könnte selbst gehen, bleibt aber in der Krippe.

4. Bewundernswertes Schweigen. Die anderen Kinder sprechen nicht, weil sie nicht können, er dagegen, weil nicht die Zeit zu sprechen, sondern zu schweigen ist.

5. Liebe zur Niedrigkeit. Bei den Tieren liegend, erträgt er gern ihr Schnauben und sogar ihre Stumpfsinnigkeit. Außerdem liebt er diese Tiere, weil das eine das Joch trägt, das andere Lasten, das eine mühselig ist, das andere beladen. Daher: Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken (Mt 11,28).

6. Seht die Milde dieses Knaben: stärker als Simson, läßt er sich dennoch binden; er bleibt freundlich bei den unfreundlichen Tieren. Ich meine ihn zu sehen, wie er seine gütigen Augen auf seine liebe Mutter, den Vater und die Hirten richtet, wie er die Mutter liebkost und küßt, nach Hld 1,1: Er küsse mich; wie er die Milch trinkt.

7. Seht seine Abtötung: in der Kälte wird er geboren, liegt auf dem Stroh, im Stall etc.

8. Er weint. Weish 7,3: Gleich allen habe ich weinend meine Stimme erhoben. Die natürliche Erklärung, warum die Neugeborenen weinen, ist, daß sie nach der Wärme und Geborgenheit im Mutterschoß zum erstenmal die Kälte, das Licht und eine ungewohnte Luft spüren. Die mystische Erklärung: weil sie geboren werden, um zu sterben und viel zu leiden. Deshalb haben manche darauf hingewiesen, der erste Schrei der Knaben sei „a“, der Mädchen „e“; das sind die Anfangsbuchstaben von Adam und Eva, durch die wir so viel Leid erfahren. Nach Aristoteles lachen übrigens die Kinder nicht vor dem vierzigsten Tag, außer auf wunderbare Weise, wie Zoroaster, „der unglückselige Mensch, der lachend zur Welt kam“. So beginnen Ordensleute die Reinigung mit der Buße; 40 ist die Zahl der vollkommenen Reinigung; erst wenn sie erreicht ist, lachen sie, d. h. sind sie getröstet.

Darüber hinaus sagt der Bräutigam im Hohelied (4,11): Von meinen Lippen träufelt Honig. Also ist die Braut ein Bienchen, das im Mund Honig erzeugt, und so ist es. Die Oblatinnen sind Bienen. Sie gehen im Haus der Heimsuchung aus und ein; sie haben kein Eigentum. Sie sind Jungfrauen und gebären nicht, sondern erhalten die Nachkommenschaft vom Himmel, damit wir uns durch seine Eingebung vermehren. Sie gehorchen, denn auf den Ruf der einen kommen sie; morgens stehen auf den Ton der Glocke alle zur gleichen Zeit auf; sie haben Vorgesetzte. Ihr seid also allerliebste Bienen; aber habt ihr keinen König? Seht euren kleinen Herrn, den wahren König der Bienen. Sammelt euch um ihn, betrachtet ihn, ahmt ihn nach und seid vortreffliche Oblatinnen. Schaut auf die Mutter, die kleine Biene; schaut auf den Vater. Folgt dem neuen König. Er sei euer Manna, er selbst euer Honig, er, der König, der Herr über euer Herz und euren Leib ist, bis er euch in den Bienenstock des Himmels führt. Dort werdet ihr noch viel süßeren Honig bereiten, etc.

Man könnte an diesem Kind das schönste Bild des ganzen Ordenskleides entwerfen. Die Kinder sind ja wie die Mönche mit einer Kutte bekleidet, gehen barfuß, etc.


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