Zum Palmsonntag

Annecy, 12. April 1615 (OEA IX,65-72; DASal 9,234-239)

Es bleibt mir noch eine Einteilung im Gebet zu erklären, sowohl im Geistesgebet wie im mündlichen. Wir wenden uns in zweifacher Weise an Gott, um ihn zu bitten. Beide hat Unser Herr empfohlen und unsere heilige Mutter Kirche geboten. Wir bitten nämlich Gott das eine Mal unmittelbar, ein andermal mittelbar, so wenn wir die Antiphonen Unserer lieben Frau beten, das Salve Regina und andere. Wenn wir unmittelbar beten, üben wir das kindliche Vertrauen, das sich auf Glaube, Hoffnung und Liebe stützt. Wenn wir mittelbar und durch die Vermittlung eines anderen bitten, üben wir die heilige Demut, die aus unserer Selbsterkenntnis hervorgeht. Wenn wir uns unmittelbar an Gott wenden, berufen wir uns auf seine Güte und seine Barmherzigkeit, auf die wir unser ganzes Vertrauen setzen; wenn wir aber mittelbar beten, Unsere liebe Frau, die Heiligen und die seligen Geister um ihren Beistand bitten, tun wir das, um von der göttlichen Majestät besser aufgenommen zu werden, und dann berufen wir uns auf seine Erhabenheit und Allmacht und auf die Ehrfurcht, die wir ihm schulden.

Ich möchte der letzten Predigt noch ein Wort hinzufügen über die äußere Ehrfurcht, die wir beim Gebet haben müssen. Unsere Mutter Kirche bestimmt genau, welche Haltung wir nach ihrem Wunsch beim Rezitieren des Offiziums einnehmen sollen: einmal stehen, einmal sitzen, dann knien; einmal das Haupt bedeckt, einmal unbedeckt. Alle diese Verhaltensweisen sind aber nichts anderes als Gebete. Alle Zeremonien der Kirche sind erfüllt von tiefem Sinn; die frommen, demütigen und einfältigen Seelen empfangen sehr viel Trost bei ihrem Anblick. Sagt mir doch, was nach eurer Meinung die Zweige bedeuten, die wir heute in Händen halten? Doch nichts anderes, als daß wir Gott bitten, er möge uns siegen lassen durch das Verdienst und den Sieg, den Unser Herr am Baum des Kreuzes errungen hat.

Beim Gottesdienst müssen wir darauf achten, die Haltung einzunehmen, die in unseren Meßbüchern angegeben ist. Welche Ehrfurcht aber müssen wir in unseren persönlichen Gebeten wahren? Wir stehen genau so vor Gott wie bei den gemeinsamen Gebeten, wenn wir auch bei den gemeinsamen wegen der Erbauung des Nächsten besonders sorgfältig darauf bedacht sein müssen. Die äußere Ehrfurcht trägt viel zur inneren bei. Wir haben verschiedene Beispiele dafür, daß wir uns auch beim persönlichen Gebet in großer äußerer Ehrfurcht halten müssen. Hört den hl. Paulus (Eph 3,14): Ich beuge mein Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, sagt er für uns alle. Und seht ihr nicht, daß unser Erlöser selbst sich zu Boden warf, als er zu seinem Vater betete (Mt 26,39; Mk 14,35)?

Noch dieses Beispiel: Ihr wißt sicher, daß der große hl. Paulus der Einsiedler viele Jahrzehnte in der Wüste lebte. Als ihn der hl. Antonius aufsuchte, traf er ihn im Gebet. Er sprach mit ihm und entfernte sich wieder. Als er ihn aber das nächste Mal besuchen kam, fand er ihn in derselben Haltung wie beim ersten Mal: das Haupt erhoben, die Augen zum Himmel gerichtet, die Hände gefaltet, auf beiden Knien liegend. Nachdem der hl. Antonius schon lange gewartet hatte, begann er sich zu wundern, daß er ihn nicht seufzen hörte, wie er es gewöhnlich getan hatte. Er blickte auf, und als er ihm ins Gesicht schaute, erkannte er, daß er tot war. Es sah so aus, als ob sein Leib, der im Leben so viel gebetet hatte, auch nach seinem Tod noch betete. Mit einem Wort, der ganze Mensch muß beten. David sagt, daß sein ganzes Gesicht betete (Ps 27,8), daß seine Augen so aufmerksam auf Gott gerichtet waren, so daß sein Augenlicht ganz geschwächt war (Ps 69,4) und sein Mund geöffnet wie der Schnabel eines Vögelchens, wenn es merkt, daß seine Mutter kommt, es zu atzen. In jedem Fall aber ist jene Haltung die beste, die uns die größte Aufmerksamkeit ermöglicht. Ja selbst das Liegen ist gut und scheint selbst zu beten. Seht ihr nicht den heiligen Mann Ijob auf seinem Misthaufen liegend ein so vorzügliches Gebet verrichten, daß es von Gott gehört zu werden verdiente (Ijob 42,9f)? Nun, das sei nur nebenbei gesagt.

Sprechen wir nun vom Geistesgebet; und wenn es euch recht ist, will ich euch durch einen Vergleich mit dem Tempel Salomos zeigen, daß es in der Seele vier Schichten gibt. In diesem Tempel gab es erstens einen Vorhof, der für die Heiden bestimmt war, damit sich niemand von der Anbetung entschuldigen konnte. Deshalb war dieser Tempel der göttlichen Majestät wohlgefälliger, da es kein Volk gab, das ihm nicht an diesem Ort seine Huldigung erweisen konnte. Die zweite Abteilung war für die Juden bestimmt, Männer und Frauen, wenn man auch später eine Trennung einführte, um Anstößiges zu verhindern, das entstehen konnte, wenn sie beisammen waren. Weiter aufsteigend gab es dann die Abteilung für die Priester und schließlich die höchste Abteilung, bestimmt für die Kerubim und ihren Herrn. Hier stand die Bundeslade und hier offenbarte Gott seinen Willen; sie wurde das Allerheiligste genannt.

In unserer Seele gibt es die erste Schicht; das ist eine bestimmte Erkenntnis, die wir durch die Sinne gewinnen. So erkennen wir durch unsere Augen, ob ein Gegenstand grün, rot oder gelb ist. Dann aber gibt es eine Stufe oder Schicht, die schon etwas höher ist, nämlich eine Erkenntnis, die wir durch die Überlegung gewinnen. Wenn z. B. ein Mensch an einem Ort mißhandelt wurde, wird er durch Überlegung herauszufinden versuchen, wie er vermeiden kann, an diesen Ort zurückzukehren. Die dritte Schicht ist die Erkenntnis, die wir durch den Glauben haben. Die vierte, das Allerheiligste, ist die feine Spitze unserer Seele, die wir Geist nennen. Da diese feine Spitze stets auf Gott gerichtet ist, dürfen wir uns nicht verwirren lassen.

Die Schiffe auf dem Meer haben alle einen Kompaß, dessen Nadel, vom Magnet angezogen, stets auf den Polarstern zeigt. Selbst wenn das Schiff nach Süden fährt, zeigt die Kompaßnadel dennoch unablässig nach dem Nordpol. So scheint es auch manchmal, als ob sich die Seele ganz nach der Sünde wende, so sehr ist sie von Zerstreuungen beunruhigt; die feine Spitze der Seele aber schaut unablässig auf Gott, der ihr Pol ist. Selbst die fortgeschrittensten Menschen haben manchmal so große Versuchungen, selbst gegen den Glauben, daß es ihnen scheint, die ganze Seele stimme zu, so verwirrt ist sie. Sie haben nur noch diese feine Spitze, die widersteht; und dieser Teil unserer Seele ist es, der das Geistesgebet vollzieht, denn obwohl alle anderen Fähigkeiten und Kräfte der Seele von Zerstreuungen erfaßt sind, betet der Geist in seiner feinen Spitze.

Nun, im Geistesgebet gibt es vier Teile; der erste ist die Betrachtung, der zweite die Beschauung, der dritte sind die Herzenserhebungen, der vierte die einfache Gegenwart Gottes. Der erste Teil geschieht durch die Betrachtung in der Weise: wir wählen ein Geheimnis, z. B. Unseren Herrn am Kreuz; wenn wir ihn uns vorgestellt haben, erwägen wir seine Tugenden: seine Liebe gegen seinen Vater, die ihn den Tod erdulden läßt, den Tod am Kreuz (Phil 2,8), viel mehr um ihm zu gefallen, als um ihm nicht zu mißfallen; seine große Sanftmut, Demut und Geduld, mit der er so große Schmähungen erduldete; schließlich seine große Liebe gegen jene, die ihn töteten, indem er inmitten der größten Schmerzen für sie betete (Lk 23,34). Wenn wir das alles erwogen haben, wird unser Gemüt bewegt zum glühenden Verlangen, ihn in seinen Tugenden nachzuahmen. Dann gehen wir dazu über, den ewigen Vater zu bitten, daß er uns seinem Sohn gleichförmig mache(Röm 8,29).

Die Betrachtung geschieht so, wie es die Bienen machen, wenn sie den Honig sammeln. Sie sammeln den Honig, der vom Himmel auf die Blüten fällt, nehmen ein wenig vom Saft der Blüten selbst und tragen ihn in den Bienenkorb. So verkosten auch wir die Tugenden Unseres Herrn eine nach der anderen, um dadurch zur Nachahmung angeregt zu werden. (Dann schauen wir sie alle zusammen mit einem Blick in der Beschauung.) Gott betrachtete bei der Schöpfung (vgl. Tr. 6,5). Seht, wie er, nachdem er den Himmel geschaffen hat, sagt, daß er gut war. Ebenso tat er, nachdem er die Erde geschaffen, die Tiere und schließlich den Menschen. Er fand alles gut, indem er eines nach dem anderen betrachtete; als er aber alles zusammen sah, was er geschaffen, sagt er, daß alles sehr gut war (Gen 1,10-25.31).

Nachdem die Braut im Hohelied (5,9-16) ihren Vielgeliebten gepriesen hat wegen der Schönheit seiner Augen, seiner Lippen, kurz nacheinander aller seiner Glieder, schließt sie folgendermaßen: Wie schön ist mein Vielgeliebter, wie liebe ich ihn; er ist mein Allerliebster! Das ist die Beschauung. Denn wenn wir Geheimnis um Geheimnis erwägen, wie gut Gott ist, kommen wir dahin, wie es mit den Stricken unserer Schiffe geht: wenn man sehr kräftig rudert, erhitzen sich die Stricke derart, daß sie Feuer fangen, wenn man sie nicht anfeuchtet. Unsere Seele dagegen, die sich den zu lieben erwärmt, den sie als so liebenswert erkannt hat, schaut fortwährend auf ihn, weil sie sich immer mehr daran erfreut, ihn so schön und so gut zu sehen.

Der Bräutigam im Hohelied (5,1 nach Sept. und Vätern) sagt: Komm, meine Vielgeliebte, denn ich habe meine Myrrhe gesammelt, ich habe mein Brot gegessen und meine Honigscheibe, ich habe meinen Wein mit meiner Milch getrunken. Kommt, meine Vielgeliebten, eßt und berauscht euch, meine Teuersten. Diese Worte stellen uns die Geheimnisse vor Augen, die in den nächsten Wochen gefeiert werden. Ich habe meine Myrrhe gesammelt und mein Brot gegessen; das geschieht im Tod und in der Passion des Erlösers. Ich habe meine Honigscheibe gegessen; das geschieht, wenn er seine Seele wieder mit dem Leib vereinigt. Zum Schluß fügt der Bräutigam hinzu: meinen Wein mit meiner Milch. Der Wein versinnbildet die Freude seiner Auferstehung, die Milch seinen freundlichen Umgang. Er hat sie beide zugleich getrunken, denn er bleibt vierzig Tage nach seiner Auferstehung auf der Erde (Apg 1,3), sucht seine Jünger auf, läßt sie seine Wundmale berühren und ißt mit ihnen. Wenn er aber sagt: Eßt, meine Vielgeliebten, will er damit sagen: betrachtet. Ihr wißt doch, damit man das Fleisch schlucken kann, muß man es zuerst kauen und zerkleinern und oftmals im Mund von einer Seite auf die andere schieben. So müssen wir es auch mit den Geheimnissen Unseres Herrn machen: man muß sie zergliedern und mehrmals in unserem Verstand hin- und herbewegen, bevor wir unseren Willen erwärmen und zur Beschauung kommen. Der Bräutigam schließt dann: Berauscht euch, meine Teuersten. Was will das heißen? Ihr wißt wohl, daß man den Wein nicht zu kauen gewohnt ist; man schluckt ihn nur. Das versinnbildet uns die Beschauung, bei der man nicht kaut, sondern nur schluckt. Du hast genug betrachtet, wie gut ich bin, scheint der göttliche Bräutigam zu seiner Vielgeliebten zu sagen: schau mich an, und du wirst dich daran ergötzen zu sehen, daß ich es bin.

Der hl. Franziskus verbrachte eine Nacht damit zu wiederholen: Du bist „mein Alles“. Er sprach diese Worte in der Beschauung, als wollte er sagen: Ich habe dich Stück für Stück betrachtet, mein Herr, und habe gefunden, daß du überaus liebenswert bist; nun schaue ich dich an und sehe, daß du „mein Alles“ bist. Der hl. Bruno begnügte sich mit den Worten: „O Güte!“ Der hl. Augustinus: „O alte und neue Schönheit!“ Du bist alt, weil du ewig bist, aber du bist neu, weil du eine neue Wonne in mein Herz gebracht hast. Das waren einige Worte über die Beschauung.

Kommen wir zum dritten Teil des Geistesgebetes, der in den Herzenserhebungen besteht. Davon kann sich niemand entschuldigen, weil sie im Kommen und Gehen bei den Beschäftigungen geschehen können. Ihr sagt mir, daß ihr nicht die Zeit habt, um zwei oder drei Stunden zu beten. Wer spricht denn davon? Empfehlt euch am Morgen Gott, beteuert, daß ihr ihn nicht beleidigen wollt, dann geht an euer Tagewerk mit dem Entschluß, gleichwohl häufig euren Geist zu Gott zu erheben, selbst in Gesellschaft. Wer kann euch daran hindern, auf dem Grund eures Herzen mit ihm zu sprechen? Es ist ja nicht nötig, daß ihr geistigerweise oder mündlich mit ihm sprecht. Sagt kurze aber feurige Worte. Jenes, das der hl. Franziskus wiederholt sagte, ist ausgezeichnet, denn es war ein Wort der Beschauung, weil es andauerte wie ein Fluß, der beständig fließt. Es ist wahr, es wäre nicht gut, wenn man zu Gott sagte: Du bist mein Alles, dabei aber etwas anderes wollte als ihn, denn die Worte müssen mit der Gesinnung des Herzens übereinstimmen. Aber zu Gott sagen: Ich liebe dich, obwohl wir kein starkes Gefühl der Liebe haben, das dürfen wir nicht unterlassen, weil wir es doch wollen und ein großes Verlangen haben, ihn zu lieben.

Ein gutes Mittel, uns in diesen Herzenserhebungen zu üben, besteht darin, das Vaterunser nacheinander herzunehmen, indem man für jeden Tag einen Satz wählt. Ihr habt z. B. heute genommen: Vater unser, der du im Himmel bist. Sagt also beim ersten Mal: Mein Vater im Himmel; eine Viertelstunde später könnt ihr sagen: Wenn du mein Vater bist, wann werde ich ganz deine Tochter sein? So könnt ihr von einer Viertelstunde zur anderen euer Gebet fortsetzen. Die heiligen Väter, die in der Wüste lebten, in Wahrheit die Ordensleute der Frühzeit, waren so sorgsam bedacht, diese Gebete und Herzenserhebungen zu machen, daß der hl. Hieronymus davon berichtet: Wenn man sie besuchte, hörte man den einen sagen: Mein Gott, du bist alles, was ich ersehne; einen anderen: Wann werde ich ganz dein sein, mein Gott? Wieder einer wiederholte: Gott, eile mir zu helfen (Ps 70,1). Man vernahm schließlich eine überaus angenehme Harmonie ihrer verschiedenen Stimmen. Ihr werdet mir aber sagen: Wenn man diese Worte mündlich ausspricht, warum nennen Sie das ein Geistesgebet? Weil es auch geistigerweise verrichtet wird und weil es vor allem aus dem Herzen kommt.

Der Bräutigam sagt im Hohelied (4,9 nach Sept.), daß seine Vielgeliebte ihm das Herz entzückte durch eines ihrer Augen und durch eines ihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt. Diese Worte sind ein Köcher voll überaus lieblicher Anregungen. Hier ist eine recht liebenswerte: Wenn ein Mann und eine Frau in ihrem Hauswesen Aufgaben haben, die sie zwingen, sich zu trennen, und sie begegnen sich zufällig, dann schauen sie einander im Vorbeigehen kurz an, aber nur mit einem Auge, weil sie einander von der Seite begegnen und man es nicht gut mit zwei Augen tun kann. So will dieser Bräutigam sagen: Obwohl meine Vielgeliebte sehr beschäftigt ist, unterläßt sie es doch nicht, mich mit einem Auge anzuschauen und mir durch diesen Blick zu versichern, daß sie ganz die Meine ist. Sie hat mein Herz entzückt durch eines ihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt, d. h. durch einen Gedanken, der aus ihrem Herzen kommt.

Wir wollen jetzt nicht mehr vom vierten Teil des Geistesgebetes sprechen. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir je in den Himmel kommen! Denn dort werden wir betrachten, indem wir alle Werke Gottes im einzelnen betrachten und erwägen; und wir werden finden, daß alle gut sind. Wir werden die Beschauung haben und alle zusammen sehr gut finden. Und wir werden ewig unser Herz zu ihm erheben. Dort wünsche ich euch alle zu sehen. So sei es.


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