Zum 4. Fastensonntag

Annecy, 29. März 1615 (OEA IX,51-56; DASal 9,223-227)

Wir haben nun von der causa efficiens des Gebetes zu sprechen. Wir müssen also wissen: wer kann und wer muß beten? Die Frage wäre sehr schnell entschieden, wenn wir sagten, daß alle Menschen beten können und daß alle es tun müssen. Um aber die Geister besser zufriedenzustellen, wollen wir den Gegenstand ausführlicher behandeln. Zunächst müssen wir wissen, daß Gott nicht beten kann. Das Gebet ist ja eine Bitte, die sich auf die Gnade stützt, und es setzt in uns die Erkenntnis voraus, daß wir irgendeiner Sache bedürfen; man bittet ja gewöhnlich nicht um etwas, was man bereits besitzt. Nun kann Gott nichts gnadenhalber verlangen, sondern nur auf Grund der Autorität; er kann weiterhin keiner Sache bedürfen, da er alles besitzt. Es ist also ganz sicher, daß Gott nicht beten kann und nicht zu bitten braucht. Das gilt von Gott.

Einige der frühen Väter, selbst der hl. Gregor von Nazianz, lehren, daß auch unser Herr Jesus Christus nicht beten könne. (Insofern er Gott ist, ist das ganz klar, da er der eine Gott mit dem Vater ist; davon haben wir schon gesprochen.) Sie begründen ihre Auffassung mit den Worten, die der göttliche Heiland (Joh 16,16.26) zu seinen Jüngern gesagt hat: Ich gehe zu meinem Vater, aber ich sage nicht, daß ich ihn bitten werde. Sie fügen hinzu: Wenn er sagt, daß er nicht bitten wird, warum behaupten wir es dann? Die übrigen Väter halten daran fest, daß Unser Herr betet, weil sein Lieblingsjünger von seinem Meister geschrieben hat, daß wir in ihm einen Anwalt beim Vater haben (1 Joh 2,1). Trotzdem widersprechen sie einander mit ihren verschiedenen Auffassungen nicht, wenn es auch so scheinen mag. Es ist sicher, daß unser Herr Jesus Christus nicht beten muß, sondern er kann gerechterweise von seinem Vater verlangen, was er will. Man sieht auch, daß die Auserwählten gewöhnlich nichts gnadenhalber verlangen, sondern unter Berufung auf die Gerechtigkeit die Rechte, die sie beanspruchen. Der Erlöser verlangt nichts ohne guten Rechtstitel, denn er zeigt seinem Vater seine Wundmale, wenn er von ihm etwas erlangen will. Es ist dennoch eine ganz sichere Wahrheit, daß Unser Herr, obwohl er gerechterweise verlangt, was er will, sich als Mensch vor seinem Vater verdemütigt, mit so großer Ehrfurcht zu ihm spricht und Akte so tiefer Demut verrichtet, wie es kein Geschöpf jemals verstehen und tun könnte. So kann seine Bitte als Gebet bezeichnet werden.

An einigen Stellen der Heiligen Schrift heißt es, daß der Heilige Geist gebeten und gebetet hat (Röm 6,26f). Das darf man nicht so verstehen, daß er gebetet hätte, denn das kann er nicht, da er mit dem Vater und dem Sohn wesensgleich ist. Damit soll vielmehr gesagt werden, daß er den Menschen eingegeben hat, ein solches Gebet zu verrichten.

Die Engel beten. Das wird uns an einigen Stellen der Heiligen Schrift (Tob 12,12; Offb 8,3f) gezeigt. Für die Menschen, die im Himmel sind, haben wir solche Zeugnisse nicht; denn als Unser Herr starb, auferstand und in den Himmel auffuhr, waren keine Menschen im Himmel; sie waren alle in Abrahams Schoß. Es ist trotzdem ganz klar, daß die Menschen beten, da die Engel beten, in deren Gemeinschaft sie sind.

Laßt uns nun sehen, ob alle Menschen beten können. Ich sage Ja und sage, daß sich niemand davon entschuldigen kann, nicht einmal die Häretiker. Es gab einmal einen Heiden (vgl. Apg 10,4.30f), der so vorzüglich betete, daß dieses Gebet vor den Thron der göttlichen Barmherzigkeit gebracht zu werden verdiente. Und Gott gewährte ihm die Gnade, ihm eine Möglichkeit der Unterweisung im Glauben zu geben; er wurde dann ein großer Heiliger bei den Christen. Es ist wahr, daß große Sünder viele Schwierigkeiten haben zu beten. Sie gleichen den jungen Vögeln. Sobald diese Federn bekommen, können sie selbst mit Hilfe ihrer Flügel fliegen; sobald sie sich aber auf den Leim setzen, den man bereitet hat, um sie zu fangen, muß man sehen, wie dieser klebrige Saft ihnen die Flügel verklebt, so daß sie dann nicht mehr fliegen können. So ergeht es auch den Sündern, die sich auf das Laster einlassen und sich auf seinem schlüpfrigen Boden niederlassen; sie lassen sich so sehr von der Sünde fesseln, daß sie sich nicht mehr durch das Gebet zum Himmel erheben können. Soweit sie jedoch für die Gnade empfänglich sind, können sie dennoch beten. Nur der Teufel kann es nicht, denn nur er allein ist unfähig zu lieben.

Nun bleibt noch zu erklären, welche Voraussetzungen man haben muß, um gut zu beten. Ich weiß wohl, daß die Väter, die diese Frage behandeln, deren eine große Zahl anführen; die einen zählen fünfzehn auf, die anderen acht. Da diese Zahl so groß ist, will ich nur drei nennen. Die erste ist, daß man klein sein muß durch die Demut; die zweite, groß in der Hoffnung, und die dritte, daß man dem gekreuzigten Jesus Christus aufgepfropft sein muß.

Sprechen wir zunächst von der ersten Bedingung; sie ist nichts anderes als jene geistliche Demut, von der Unser Herr (Mt 5,3 nach dem Griechischen) sagt: Selig die Bettler im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Obwohl einige Theologen dieses Wort auslegen mit selig die Armen im Geiste, widersprechen sich die beiden Auslegungen nicht; denn alle Armen sind Bettler, wenn sie nicht stolz sind, und alle Bettler sind arm, wenn sie nicht geizig sind. Um also gut zu beten, müssen wir zugeben, daß wir arm sind, und müssen uns sehr demütigen. Seht ihr nicht, daß ein Bogenschütze, der einen Meisterschuß tun will, die Sehne um so mehr anzieht, je höher er schießen will? So müssen auch wir tun, wenn wir wollen, daß unser Gebet bis zum Himmel dringt: wir müssen uns erniedrigen durch die Erkenntnis unserer Nichtigkeit.

Seht ihr nicht, wenn die Großen einen Springbrunnen auf der Höhe ihrer Burgen errichten wollen, nehmen sie das Wasser dafür aus einer Quelle an einem noch höher gelegenen Ort und leiten es durch Rohre so weit herunter, als sie es aufsteigen lassen wollen; denn sonst könnte das Wasser nie in die Höhe steigen. Wenn ihr sie fragt, wie sie erreicht haben, daß es hochsteigt, werden sie euch antworten: durch seinen Abstieg. Genau so ist es beim Gebet. Denn wenn man fragt, wie es zum Himmel aufsteigen kann, wird man euch antworten, daß es aufsteigt durch seinen Abstieg in der Demut. Die Braut im Hohelied (3,6; 8,5) Dazu mahnt uns David (Ps 130,1; vgl. Sir 35,21) mit den Worten: Wenn du beten willst, erniedrige dich so im Abgrund deines Nichts, daß du dann ohne Schwierigkeit dein Gebet wie einen Pfeil zum Himmel schießen kannst.

Seht ihr nicht, wenn die Großen einen Springbrunnen auf der Höhe ihrer Burgen errichten wollen, nehmen sie das Wasser dafür aus einer Quelle an einem noch höher gelegenen Ort und leiten es durch Rohre so weit herunter, als sie es aufsteigen lassen wollen; denn sonst könnte das Wasser nie in die Höhe steigen. Wenn ihr sie fragt, wie sie erreicht haben, daß es hochsteigt, werden sie euch antworten: durch seinen Abstieg. Genau so ist es beim Gebet. Denn wenn man fragt, wie es zum Himmel aufsteigen kann, wird man euch antworten, daß es aufsteigt durch seinen Abstieg in der Demut. Die Braut im Hohelied (3,6; 8,5) setzt die Engel in Staunen, so daß sie fragen: Wer ist jene, die aus der Wüste kommt und aufsteigt wie eine Säule duftenden Rauches, zusammengesetzt aus Myrrhe, Weihrauch und allen guten Düften der Spezereien, und die gestützt ist auf ihren Vielgeliebten? Die Demut ist in ihren Anfängen eine Wüste, obwohl sie am Ende sehr fruchtbar ist, und die demütige Seele glaubt eine Wüste zu sein, wo weder Vögel noch wilde Tiere leben und wo es keinen fruchttragenden Baum gibt.

Gehen wir nun zur Hoffnung weiter, der zweiten Voraussetzung, die notwendig ist, um gut zu beten. Die Braut, die aus der Wüste kommt, steigt empor wie ein Schößling oder eine Säule duftenden Rauches, bestehend aus Myrrhe. Das ist ein Sinnbild der Hoffnung; denn obwohl die Myrrhe einen lieblichen Duft ausströmt, schmeckt sie dennoch bitter. So ist auch die Hoffnung süß, insofern sie uns verspricht, daß wir uns eines Tages dessen erfreuen dürfen, was wir ersehnen; sie ist aber bitter, weil wir noch nicht im beglückenden Besitz dessen sind, was wir lieben. Der Weihrauch ist ein noch treffenderes Sinnbild der Hoffnung; denn wenn er auf die Glut gelegt wird, sendet er seinen Rauch stets nach oben. Ebenso muß die Hoffnung auf die Liebe gelegt werden; andernfalls wäre sie nicht mehr Hoffnung, sondern Vermessenheit. Die Hoffnung steigt wie ein Pfeil bis zur Pforte des Himmels empor, aber sie kann nicht eindringen, weil sie eine Tugend ist, die ganz der Erde angehört. Wenn wir wollen, daß unser Gebet den Himmel durchdringt (Sir 35,21), müssen wir den Pfeil schärfen mit dem Schleifstein der Liebe.

Kommen wir zur dritten Bedingung. Die Engel sagten, daß die Braut auf ihren Vielgeliebten gestützt ist. So haben wir gesagt, daß die letzte Voraussetzung darin besteht, dem gekreuzigten Jesus Christus aufgepfropft zu sein. Als der Bräutigam einmal seine Braut lobte und sie eine Lilie unter Dornen nannte, sagte sie als Erwiderung: Mein Vielgeliebter ist wie ein Apfelbaum unter Sträuchern. Dieser Baum ist ganz bedeckt mit Blättern, Blüten und Früchten; ich will mich in seinen Schatten setzen und die Früchte sammeln, die in meinen Schoß fallen; ich werde sie essen, und wenn ich sie gekaut habe, mit meinem Gaumen schmecken, wo ich sie süß und lieblich finde (Hld 2,2f). Wo aber ist dieser Baum gepflanzt? In welchem Garten werden wir ihn finden? Ohne Zweifel ist er auf dem Kalvarienberg gepflanzt und man muß sich in seinem Schatten aufhalten. Was aber sind seine Blätter? Nichts anderes als die Hoffnung auf unser Heil durch den Tod des Erlösers. Und die Blüten? Das sind die Gebete, die er für uns an seinen Vater richtete (vgl. Hebr 5,7). Die Früchte sind die Verdienste seines Todes und seiner Passion.

Bleiben wir also zu Füßen des Kreuzes; gehen wir nicht fort, bis wir ganz vom Blut getränkt sind, das von ihm herabfließt. Die hl. Katharina hatte einmal eine Entrückung, als sie über den Tod und die Passion Unseres Herrn betrachtete. Da wurde ihr geoffenbart, daß sie sich in einem Bad aus einem kostbaren Blut befand. Als sie wieder zu sich kam, sah sie ihr Kleid ganz rot von diesem Blut; die anderen aber sahen es nicht. So dürfen wir nicht zu beten beginnen, ohne daß wir mit seinem Blut besprengt sind; zum mindesten muß man sich damit besprengen am Morgen bei seinem ersten Gebet. Der hl. Paulus schrieb an seine lieben Kinder (Röm 13,14) und trug ihnen auf, sich mit Unserem Herrn zu bekleiden, d. h. mit seinem Blut. Aber was heißt das, mit seinem Blut bekleidet sein? Ihr wißt doch, daß man sagt: Der Mann ist in Scharlach gekleidet. Der Scharlach ist ein Fisch. Das Kleid des Mannes ist aus Wolle gemacht, aber es ist gefärbt im Blut des Fisches. Ebenso ist es bei uns: obwohl wir mit Wolle bekleidet sind, d. h. gute Werke verrichten, haben diese keine Geltung und keinen Wert, insofern sie von uns stammen, wenn sie nicht eingetaucht sind in das Blut unseres Meisters, dessen Verdienst sie der göttlichen Majestät wohlgefällig macht.

Als Jakob den Segen seines Vaters Isaak haben wollte, ließ ihn seine Mutter ein Zicklein wie Wildbret bereiten, weil Isaak das liebte. Außerdem ließ sie ihn Fellhandschuhe anziehen, weil Esau, der Erstgeborene, dem der Segen zustand, ganz behaart war. Sie ließ ihn auch das duftende Gewand anziehen, das für den Vorsteher des Hauses bestimmt war, und führte ihn so zu ihrem blinden Mann. Als Jakob um den Segen bat, beugte Isaak sich vor, um seine Hände zu berühren, dann rief er ganz laut: In welcher Verlegenheit bin ich! Die Stimme, die ich höre, ist die meines Sohnes Jakob, aber die Hände, die ich fühle, sind die von Esau. Und nachdem er den Duft des Gewandes wahrgenommen, sagte er: Der gute Duft, den ich wahrgenommen, ist so süß in meinem Geruchssinn, daß ich meinem Sohn den Segen gebe (Gen 27,9-29). Wenn wir das Lamm ohne Makel (1 Petr 1,19) bereitet und dem ewigen Vater dargebracht haben, um seinem Geschmack zu entsprechen, und ihn dann um seinen Segen bitten, wird er, wenn wir mit dem Blut Christi bekleidet sind, sagen: Die Stimme, die ich vernehme, ist die Jakobs, aber die Hände, die unsere armseligen Werke sind, sind die Esaus; wegen des Wohlgefallens, den Duft seines Gewandes wahrzunehmen, will ich ihm dennoch meinen Segen geben. So sei es.


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