Zum 2. Fastensonntag

Annecy, 23. Februar 1614 (OEA IX,27-31; DASal 9,216-219)

Die Kirche zeigt uns am ersten Fastensonntag die Versuchung Jesu, am zweiten seine Verklärung und die Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem, am dritten die Vorsehung Gottes für jene, die von Unserem Herrn gelernt haben, tapfer zu kämpfen, und die es so treu getan haben, daß sie die Belohnung nach dem Kampf verdienten, die er ihnen zeigt. Heute wollen wir einige kurze Erwägungen anstellen, durch die wir zeigen, daß es im Gebet vier Stufen gibt. Doch vor allem laßt uns einige Worte sagen.

Die Seele Unseres Herrn war im Besitz der Seligkeit vom Augenblick seiner Empfängnis an. Sie glich der Jakobsleiter, die mit dem einen Ende den Himmel berührte, mit dem anderen die Erde (Gen 28,12). Ebenso war es mit der Seele Unseres Herrn, denn mit ihrem höheren Teil war sie im Schoß des Vaters geborgen, mit dem niederen Teil berührte sie die Erde, da er unsere Armseligkeiten, Leiden und Schwächen annehmen wollte. Daraus erkennen wir klar, daß das Geheimnis der Verklärung kein Wunder war, sondern eine Unterbrechung des Wunders; denn die Schätze der Glorie, die den höheren Teil dieser gebenedeiten Seele schmückten, gebührten auch dem niederen Teil; doch der erfreute sich ihrer in keiner Weise, sondern war unserer ganzen Armseligkeit und Not ausgeliefert und überlassen. Das ist so, wie wenn eine mächtige Quelle auf dem Gipfel eines hohen Berges ihre Wasser zurückhielte und sie nicht in die Täler fließen ließe. In der Stunde der Verklärung war dieses Wunder zeitweise ausgesetzt, da Unser Herr den niederen Teil seiner Seele an der Herrlichkeit und am Trost des höheren Teiles sich erfreuen ließ.

Manche fromme Seele wird vielleicht fragen, wie wir erkennen können, daß wir im Gebet Fortschritte machen und durch das Gebet in der Vollkommenheit. Wir nehmen in der Tat durch das Gebet an Vollkommenheit zu. Nachdem der hl. Bernhard andere Mittel dazu angegeben hat, sagt er, daß das Gebet alle übertrifft. Die vier Erwägungen, die ich davon ableiten will, werden euch hinreichend zeigen, ob ihr Fortschritte macht, denn das sind vorzügliche Stufen zur Vollkommenheit.

Die erste Erwägung ist die: Als Jesus auf den Berg gestiegen war, begann er zu beten. Während er betete, wurde er verklärt und sein Gesicht wurde leuchtender als die Sonne und seine Kleider weiß wie Schnee (Mt 17,1f; Lk 9,28f). Nun erkennen wir, daß unser Gebet gut ist und daß wir in ihm Fortschritte machen, wenn nach dem Gebet unser Gesicht wie das des Herrn leuchtet wie die Sonne und unsere Kleider weiß wie Schnee sind, d. h. wenn unser Gesicht vor Liebe strahlt und unser Leib durch die Keuschheit. Die Liebe ist die Reinheit der Seele, denn sie kann in unseren Herzen keinerlei unreine Neigung dulden oder eine, die dem widerspräche, den sie liebt (la charité und l’amour ist ja dasselbe); die Keuschheit ist die Liebe des Leibes, da sie jede Art von Unreinheit zurückweist. Wenn ihr nach dem Gebet ein verdrießliches und ärgerliches Gesicht macht, sieht man zur Genüge, daß ihr nicht so gebetet habt, wie ihr sollt.

Die zweite Erwägung geht davon aus, daß die Apostel Mose und Elija sahen, die mit Unserem Herrn über den Ausgang sprachen, den er in Jerusalem vollenden mußte. Seht ihr, während der Verklärung wird von der Passion gesprochen; denn dieser Ausgang ist nichts anderes als die Passion. Unser göttlicher Meister bewirkt seinen Ausgang ganz anders als wir übrigen; denn wir streben von unten nach oben. Ausgang bedeutet Ekstase. Er sprach also vom Exzeß; welcher Exzeß? Von dem, daß Gott von seiner höchsten Glorie herabstieg; und wozu? Um unsere Menschennatur anzunehmen und sich den Menschen gleich zu machen, sogar in allem menschlichen Elend. Er ging so weit, daß er sich dem Tod unterwarf, obwohl er unsterblich war, ja dem Tod am Kreuz (Phil 2,6-8). Die Liebe nährt sich nicht so, wie wir denken. Unser Herr spricht also von seinem Leiden und von seinem Tod, weil das die höchste Tat seiner Liebe ist. Auch die Seligen in der ewigen Herrlichkeit werden von nichts anderem sprechen und sich über nichts so freuen wie über diesen Tod (Offb 5,9-12). Folglich muß man sich inmitten der Tröstungen an die Passion erinnern. Man darf gewiß nicht wie der hl. Petrus sagen: Hier ist gut sein (Mt 17,4), sondern: Es ist gut, hier zu leiden, um zum Kalvarienberg zu gehen.

Man muß auf den Berg Tabor steigen, um getröstet zu werden, werdet ihr sagen, denn das drängt und führt die schwachen Seelen voran, die nicht den Mut haben, das Gute zu tun, ohne daß sie dabei eine Befriedigung finden. Aber glaubt mir, die wahre Frömmigkeit erwirbt man nicht inmitten des Trostes. Seht ihr das nicht im heutigen Geheimnis? Obwohl die drei Apostel die Herrlichkeit Unseres Herrn gesehen hatten, verließen sie ihn später in seinem Leiden, und der hl. Petrus, der stets so kühne Reden führte, beging doch eine schwere Sünde, indem er seinen Meister verleugnete. Vom Berg Tabor steigt man als Sünder herab, vom Kalvarienberg dagegen gerechtfertigt (Lk 18,14). Das gilt dann, wenn man sich dort fest am Fuß des Kreuzes hält wie Unsere liebe Frau, der Ausbund alles Schönen und Vorzüglichen im Himmel und auf Erden. Der hl. Johannes harrte dort treu zu Füßen seines Meisters aus, und man sieht ihn nie mehr eine Sünde begehen. In der Tröstung ist man wahrhaftig sehr in Sorge, denn man weiß nicht, ob man die Tröstungen Gottes liebt oder vielmehr den Gott der Tröstungen (2 Kor 1,3). In der Trübsal dagegen gibt es nichts zu befürchten, wenn man treu ist, weil es da nichts Liebliches gibt. Soviel also zur zweiten Erwägung.

Die dritte stelle ich darüber an, daß man die Stimme des ewigen Vaters hört, der spricht: Dieser ist mein vielgeliebter Sohn: auf ihn sollt ihr hören (Mt 17,5; 2 Petr 1,17). Man muß also dem ewigen Vater gehorchen, indem man Unserem Herrn folgt, um sein Wort zu hören. Daher werden wir belehrt, daß alle, in welchem Stand immer, bitten und beten müssen, denn vorzüglich im Gebet spricht der göttliche Meister zu uns. Ich sage nicht, daß wir alle gleichviele Gebete verrichten müßten; denn es wäre nicht angebracht, wenn jene, die viel Arbeit haben, ebensoviel Zeit im Gebet verbrächten wie die Ordensleute. Ich sage aber sehr wohl: wenn ihr eure Pflicht gut erfüllen wollt, müßt ihr Gott im Gebet bitten, daß wir gut zu tun lernen, was wir tun. Wenn Unser Herr etwas Großes unternehmen wollte, zog er sich zum Gebet zurück; nicht nur zu einem einfachen Gebet der Vorbereitung, sondern er zog sich auf einen Berg und an einen einsamen Ort zurück. Bevor er zu predigen und die Seelen zu belehren begann, zog er sich vierzig Tage zurück (Mt 4,1f). Heute will er verklärt werden und den drei Aposteln eine Probe seiner Herrlichkeit zeigen. Er begibt sich ins Gebet und gerät in Ekstase. Dabei wird sein Gesicht leuchtender als die Sonne und seine Kleider weißer als Schnee; das war unsere erste Erwägung. Darauf erschien er zwischen Mose und Elija im Gespräch über den Ausgang, den er in Jerusalem vollenden sollte; das war die zweite. Dann hörte man die Stimme des ewigen Vaters, der spricht: Dieser ist mein vielgeliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören. Die dritte Stufe des Gebetes und zugleich der Vollkommenheit besteht also darin, dem Vater zu gehorchen, indem man auf seinen Sohn hört.

Es würde aber nichts nützen, auf ihn zu hören, wenn wir nicht täten, was er sagt, indem wir getreu seine Gebote und seinen Willen befolgen. Viele sind ja gern bereit, ihn zu hören; viele möchten ihm auf den Berg Tabor folgen, sehr wenige aber auf den Kalvarienberg. Trotzdem ist das eine vorteilhafter als das andere. Ebenso bringt es mehr Nutzen, den Willen Gottes zu erfüllen oder ihn zu lieben in einem Ereignis, das uns widerstrebt, als Unseren Herrn sprechen zu hören in der Tröstung, die man manchmal im Gebet erfährt.

Ich komme zur vierten Erwägung. Als sich die Apostel aufrichteten (sie waren ja auf ihr Angesicht niedergefallen, als sie die Stimme des ewigen Vaters vernahmen), da sahen sie niemand als Jesus allein (Mt 17,6.8). Das ist die höchste Stufe der Vollkommenheit, in allem, was wir tun, nichts zu sehen als Unseren Herrn. Viele hüten sich wohl, die Menschen und die Dinge dieser Welt anzusehen, aber es ist äußerst selten, daß sie nicht auf sich selbst schauen. Sogar sehr geistlich Gesinnte suchen und wählen unter den Übungen der Frömmigkeit jene, die mehr nach ihrem Geschmack sind und ihren Neigungen mehr entsprechen. Man darf indes nur Gott sehen, nur ihn suchen, nur ihn lieben, dann werden wir glücklich sein. Jene Seelen, die diese Stufe der Vollkommenheit erreicht haben, sind mit besonderer Sorgfalt darauf bedacht, auf den gekreuzigten Herrn auf dem Kalvarienberg zu schauen und sich bei ihm aufzuhalten; denn hier finden sie ihn eher allein als irgendwo anders. Amen.


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