Die Gastfreundschaft -

die Tugend, die Gott bei sich aufnimmt

flickr:Gedeckter Tisch

Der russische Dichter Leo Tolstoi (1828-1910) erzählt vom Schuster Martin. Dieser träumte eines Tages, dass ihn Gott besuchen komme. Sofort steht er auf und putzt das ganze Haus, um seinen hohen Gast entsprechend empfangen und bewirten zu können. Ganz aufgeregt schaut er durch sein kleines Fenster auf die Straße, um Gott ja nicht zu übersehen. Da sieht er einen Mann, dessen Schuhe kaputt sind. Er lädt ihn zu sich ein und repariert seine Schuhe. Gleich darauf sieht er eine Mutter mit ihrem Kind, die frierend über die Straße gehen. Er bittet sie, sich bei ihm aufzuwärmen und eine Suppe zu essen. Schließlich sieht er einen Jungen, der aus Hunger einen Apfel stiehlt. Er bezahlt den Apfel aus seiner eigenen Tasche. Als es Abend wird, macht sich in Schuster Martin Enttäuschung breit, weil der Herr nicht gekommen ist. Da hörte er eine Stimme: „Schuster Martin, ich war doch heute schon ein paar Mal bei dir zu Gast und ich hatte mich stets sehr wohl gefühlt.“

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1.  Wir nehmen Christus auf

Diese Erzählung zeigt den Grund, warum im Christentum Gastfreundschaft eine Tugend ist: in jedem Gast nehmen wir Christus auf, der gesagt hat: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen … Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,35.40). Wir können daraus ersehen, dass sich die Tugend der Gastfreundschaft nicht darin erschöpft, gastfreundlich zu Freunden, Bekannten und Verwandten zu sein, diese Tugend schließt gerade die Fremden und Bedürftigen mit ein. Dadurch vor allem wird sie zu einem Werk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe. In seinem Wort über die rechten Gäste (Lk 14,12-14) sagt Jesus: „Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; ... Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“

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2.  Ein hohes Gut

Die Gastfreundschaft ist jener freundliche Umgang, den ein Besucher durch Beherbergung, Bewirtung und Unterhaltung empfängt. In vielen Kulturen und Religionen ist oder war sie ein so hohes Gut, dass die Verletzung des Gastrechtes sogar mit strengsten Strafen belegt wurde oder wird. Der Gastgeber ist oft nicht nur verpflichtet, den Gast aufzunehmen und mit dem Nötigsten zu versorgen, sondern ihn im Notfall sogar vor Feinden zu verteidigen und gar zu rächen.
Neben dem Christentum ist die Gastfreundschaft auch im Judentum und im Islam etwas Heiliges. Dahinter steckt nicht nur der Glaube, dass in jedem Gast Gott selbst anwesend ist – ein Gedanke, der sich übrigens auch in Homers „Odyssee“ (8. Jh. v. Chr) finden lässt. Es geht um die ganz praktische Alltagserfahrung der Welt der Nomaden in der Wüste. Dort gehörte Gastfreundschaft zum Gebot des Überlebens. Für das Volk Gottes kommt hinzu, dass das Gebot der Gastfreundschaft besonders gegenüber Fremden zu wahren ist, weil sie selbst „Fremde in Ägypten“ waren. In Lev 19,34 lesen wir als Gebot: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“
Bis heute ist es im Judentum Brauch, dass bei jüdischen Festen immer ein Gedeck mehr auf den Tisch gestellt wird … denn es könnte ja sein, dass ein unerwarteter Gast kommt, der sich als der erwartete Messias erweist.

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3.  Biblische Gastfreundschaft

In der Bibel gilt die Verweigerung oder Verletzung der Gastfreundschaft als Schande (Gen 19,5-7; Ri 19,22f). Als beispielhafte Gastgeber gelten Abraham und seine Frau Sarah (Gen 18,1-8). Mitten am Tag kommen drei fremde Männer zu ihnen nach Mamre. Ohne sie zu kennen und ohne zu wissen, was sie wollen, lädt Abraham sie ein. Sie können sich die Füße waschen, erhalten etwas zu essen und zu trinken. Abraham lässt sogar ein „zartes, prächtiges Kälbchen“ schlachten und zubereiten. Dann erst erfährt Abraham den Grund, der diese drei Männer zu ihm führte: seine Frau Sarah werde schwanger werden und ihm seinen Sohn Isaak gebären. An dieser Erzählung erkennen wir, was aus biblischer Sicht zur Gastfreundschaft gehört: die Aufnahme des Fremden, das Waschen der Füße, die Bewirtung, Schutz und Begleitung beim Abschied.
Jesus preist die Tugend der Gastfreundschaft im Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“, der einen Fremden von der Straße aufliest und für ihn sorgt (Lk 10,25-27), und im Gleichnis vom bittenden Freund, der um Mitternacht plötzlich Besuch erhält und nichts zu essen anbieten kann (Lk 11,5-8). Der Apostel Paulus schreibt in Röm 41,13: „Gewährt jederzeit Gastfreundschaft.“ Und in Hebr 13,2 heißt es: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“

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4.  Besonders empfehlenswert

Die Kunst der Gastfreundschaft besteht darin, sich bewusst zu machen, dass ich Gott in jedem Menschen begegne. Zur besonderen Tugend wird sie, wenn sie nicht nur bei Bekannten und Freunden, sondern bei Fremden angewandt wird. Für den heiligen Franz von Sales (1567-1622) zählt die Gastfreundschaft zu den besonders empfehlenswerten kleinen Tugenden, weil sie oft und leicht geübt werden kann. „Nichts ist der göttlichen Majestät wohlgefälliger als die … kleinsten Tugenden, wie etwa die Gastfreundschaft,“ schreibt er in einem Brief. Sie „machen uns vollkommener als die größten Tugenden“ (DASal 6,383).
Auch für Franz von Sales beginnt die eigentliche Tugend der Gastfreundschaft im Verhalten gegenüber Fremden. Dabei gibt es eine Steigerung, wie er in seinem Buch „Abhandlung über die Gottesliebe“ schreibt: „Die Gastfreundschaft üben ist, wenn sie nicht dringendste Not erfordert, ein Rat. Fremde aufnehmen ist die erste Stufe davon. Aber auf die Straße gehen, um sie einzuladen, wie es Abraham getan hat (Gen 18,2), ist schon eine höhere Stufe. Und eine noch höhere ist es, wenn man in gefahrvollen Gegenden seinen Wohnsitz aufschlägt, um die Wanderer aus Gefahren zu retten, ihnen zu helfen und ihnen zu dienen“ (DASal 4,100f).
In der Ordensgemeinschaft der Schwestern der Heimsuchung Mariens, die er 1610 zusammen mit der heiligen Johanna Franziska von Chantal (1572-1641) gründete, ist die Gastfreundschaft eine eigene Aufgabe. Besonders Frauen, Witwen und Verheiratete, sollen die Möglichkeit haben, eine Zeitlang in den Klöstern zu leben, wenn sie „ein neues Leben in Christus beginnen wollen.“ Franz von Sales nimmt also das vorweg, was man heute modern als „Kloster auf Zeit“ oder „Urlaub im Kloster“ formuliert. Für Franz von Sales ist dies ein Gebot der Gastfreundschaft, denn – so schreibt er in einem Brief – „man kann nicht hinreichend schildern, wie reiche Früchte diese geistliche Gastfreundschaft von einigen Tagen bringt“ (DASal 8,234).

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5.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Bin ich gastfreundlich?
  • Gilt meine Gastfreundschaft auch gegenüber Fremden?
  • Glaube ich, dass in jedem Menschen Gott gegenwärtig ist?

Herbert Winklehner OSFS


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