5. Ostersonntag, Lesejahr A

Mehr als Strukturen (Apg 6,1-7)

Liebe Schwestern und Brüder

„Eine Kirche, die nichts riskiert, riskiert am Ende alles.“ Diesen Satz, liebe Mitchristen, hat Bischof Georg Moser vor 25 Jahren auf der Rottenburger Diö-zesansynode gesagt – und er ist mir eingefallen als ich vor einigen Tagen die heutige Lesung zur Vorbreitung auf diesen Gottesdienst las. In dieser kleinen Episode aus dem Gemeindeleben in Jerusalem, die wir gerade als Lesung gehört haben, steckt eine Menge Zündstoff – und es wird etwas sicht-bar von dem Mut, mit dem die ersten Christen neue Wege in der Seelsorge ge-gangen sind.

Schauen wir uns diese Geschichte noch einmal etwas näher an. Es gibt Streit unter den Jerusalemer Christen. Aus der Diaspora waren griechisch-sprechende Judenchristen nach Jerusalem gekommen – und die werden von der hebräisch-sprechenden Urgemeinde wegen ihrer etwas freieren Sitten abgelehnt. Unter den Neuankömmlingen sind auch Witwen, denen jetzt in der neuen Umgebung die Unterstützung durch die Großfamilie fehlt, und so sind sie ganz auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen. Weil man die aber vernachlässigt, kommt es zu Ausei-nandersetzungen zwischen den beiden Gruppen. Die Apostel berufen daraufhin eine Vollversammlung der Gemeinde ein. analysieren die Missstände, erkennen, dass die bisherigen Strukturen der Gemeindearbeit der neuen Situation nicht ge-recht werden –und schaffen ein neues Amt. In Klammern gesagt: Das Ganze erinnert mich an unsere gegenwärtige Situation in unserer Kirche. Auch wir ta-gen in Gremien, analysieren die gegenwärtige Lage, stellen manche Missstände fest – es fehlen Priester und Gläubige und Geld – aber es ändert sich nur wenig oder gar nichts. Wir reden, reden und reden; bedrucken Papiere und vieles wan-dert ungelesen in den Papierkorb.

Zurück zur Lesung: Neben dem Dienst der Verkündigung soll es jetzt auch den Dienst der Diakonie, den Tischdienst für die Armen geben. Die Gemeinde ist mit dem Vorschlag der Apostel einverstanden, sie wählt sieben fähige Män-ner für diesen Dienst aus, und die Apostel übertragen ihnen die neue Aufgabe. In Klammern gesagt: Werden heute bei Strukturveränderungen die Gemeinden gefragt? Ich war 18 Jahre im Bistum Essen tätig. Da ist die Situation sehr dra-matisch. Da sind in den vergangenen Jahren 96 Kirchen geschlossen, umgewid-met oder sogar abgerissen worden. Da wurden die Gemeinden kaum gefragt. Auch bei der Zusammenlegung der Gemeinden oder der Aufgabe von Pfarreien ist meistens von oben entschieden worden. Es geht halt nicht anders - wurde immer wieder gesagt. Wir haben keine Priester und kein Geld.

Zurück zur Lesung: Die Krise ist gemeistert, man hat sich auf die Herausfor-derung einer veränderten Situation eingelassen und mutig die Verantwortung neu verteilt – die Gemeinde gewinnt an Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit und kann weiter wachsen.

Für mich, liebe Mitchristen, ist diese Geschichte aus der Lesung mehr als eine Episode aus der Gründungszeit der Kirche. Sie ist ein Modell dafür, wie die Kirche zu allen Zeiten mit Krisen umgehen könnte; wie sie auf neue Bedin-gungen und Entwicklungen reagieren könnte. So gesehen ist dieser Bibeltext gerade heute hochaktuell und keine Geschichte von gestern, wie man so oft von der Bibel behauptet!!! Er kann uns ganz schön um-treiben, wenn wir ihn ein we-nig um-schreiben; wenn wir die heutige Situation in ihn hineinschreiben; wenn wir an den entscheidenden Stellen unsere Kirchen- und Gemeindeerfahrungen eintragen.

Wenn unsere Kirche heute den Mut hätte, das Kapitel aus der Apostelge-schichte neu zu formulieren, dann würde das vielleicht so klingen:

„In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger abnahm, als viele junge Men-schen stillschweigend aus den Gemeinden abwanderten, als immer häufiger über die Leblosigkeit und Unbeweglichkeit der Kirche geklagt wurde, da begehrten einige gegen die Verantwortlichen auf, weil ihrer Meinung nach bei der „Versorgung“ der Gemeinden viele Dinge übersehen wurden. Da riefen die Hirten ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die Gläu-bigen zusammen und erklärten: Es ist nicht recht, das wir das Wort Gottes vernachlässigen und vor der neuen Situation die Augen verschließen. Es ist nicht recht, dass wir uns mehr der Vergangenheit widmen und um jeden Preis alte Strukturen und Traditionen festhalten wollen. Es ist nicht recht, dass so viele Gemeinden ohne Seelsorger und Leiter sind, nur weil wir uns daran gewöhnt haben, dass dieser Dienst nur unverheiratete Männer tun können.

Und dann sagten sie den Gläubigen: Wählt aus eurer Mitte Frauen und Männer von gutem Ruf, voll Engagement und mit der Fähigkeit, Einheit zu stiften und das Wort Gottes überzeugend weiterzusagen. Ihnen werden wir die Aufgabe der Gemeindeleitung übertragen. Der Vorschlag fand den Beifall vieler Gläubigen, sie wählten geeignete und bewährte Frauen und Männer, ließen sie vor die Nachfolger der Apostel hintreten, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf. Sie beauftrag-ten sie zur Verkündigung der Frohen Botschaft, zur Leitung der Gemein-den und ihrer Gottesdienste und zur tätigen Nächstenliebe.

Das Wort Gottes breitete sich aus, die Zahl der Gläubigen wurde wieder größer. Auch eine große Anzahl derer, die bisher skeptisch der Kirche ge-genüber gestanden hatten, nahm den Glauben an. Sie sagten: Wir haben gesehen, wie in der Kirche offen über Probleme gesprochen wird; wie Fehl-entwicklungen eingestanden und korrigiert werden; wie alle miteinander um des Reiches Gottes willen nach neuen Wegen in der Seelsorge suchen.“

Soweit diese Aktualisierung der heutigen Lesung!

Für manche von Ihnen, liebe Mitchristen, vielleicht eine etwas gewagte Version der heutigen Lesung. Vielleicht ein Kirchentraum, der nie in Erfüllung gehen wird. Vielleicht, - vielleicht aber auch nicht, denn wie heißt es doch in einem modernen Kirchenlied: „Wenn einer alleine träumt bleibt es ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen ist das der Beginn einer neuen Wirklich-keit.“

Vielleicht, liebe Mitchristen, würden Sie dieses Kapitel der Apostelgeschichte auch ganz anders umschreiben – versuchen Sie es doch einmal! Nehmen Sie dieses 6. Kapitel aus der Apostelgeschichte und schreiben Sie Ihre persönliche Fassung, schreiben Sie Ihre Hoffnungen und Wünsche, Ihre Träume von Ge-meinde und Kirche in diesen alten Text hinein.

Die verschiedenen Versionen miteinander vergleichen, kombinieren, Schritte zur Umsetzung überlegen – das stelle ich mir richtig spannend vor.

Aber eine Einschränkung möchte ich schon noch machen bzw. auf eine Ge-fahr in diesem Zusammenhang hinweisen. So schön sich diese o. g. Aktuali-sierung des Bibeltextes auch anhört und viele werden dieser sicherlich zustim-men, wir dürfen bei Strukturen in unserer Kirche nicht stehen bleiben!!! Es geht um mehr als um Strukturen und deren Veränderung. Es geht in erster Linie um die Nähe zu den Menschen. Dies sollte das Ziel aller Überlegungen sein. Wie können wir als Kirche näher zu den Leuten kommen? Die Kirche ist nicht für sich selbst da, sondern dafür, dass die Welt menschlicher wird, dass Menschen mehr zu sich selbst finden, zu Gott und den Mitmenschen. Aus dieser Einsicht heraus gilt die erste Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt werden muss, nicht der Kirche an einem bestimmten Ort, sondern den Menschen, die hier le-ben. Deshalb an dieser Stelle ein Beispiel aus Frankreich, dass die These et-was deutlicher illustriert.

Der Bischof, der neu in ein Bistum in Frankreich kam, besuchte zuerst die Bür-germeister in den Dörfern und Städten und hörte sich ihre Sorgen und Erwartun-gen an. Ihm ging es nicht zuerst um eine Stärkung des kirchlichen Gemeindele-bens, sondern darum, sich den anderen Menschen anzuvertrauen und – als Salz für diese Erde – aus Engste am Leben der menschlichen Gemeinschaft teilzu-nehmen. Seine Meinung war: Die gute Nachricht des Evangeliums soll zugäng-lich und hörbar werden gerade auch für diejenigen, die geografisch, sozial und kirchlich am weitesten entfernt sind.

Deshalb meine Abschlussthese: „Es gilt in der aktuellen Situation der Kirche mehr denn je von den Menschen auszugehen und nicht von Strukturen. Da wo fünf Menschen sind, da ist Christus, da ist die Kirche!“

„Eine Kirche, die nichts riskiert, riskiert am Ende alles.“ Lassen wir uns die-sen Satz einmal wirklich unter die Haut gehen! Nehmen wir uns heraus, von ei-ner neuen, lebendigen Kirche zu träumen, und ein Kapitel Apostelgeschichte für das 21. Jahrhundert zu schreiben bzw. neu aufzuschlagen! Amen!

Pater Hans-Werner Günther OSFS