Salesianische Zweimonatsschrift
"Licht" September / Oktober 2011 |
h Die bessere
Strategie Mein Sohn Felix hat eine herrliche Gabe, zumindest für seine Geschwister: Er kann nachgeben. Und weil er es so gut kann, muss er es auch ständig tun. Als Mutter bin ich selbstverständlich darauf bedacht, das häusliche Füllhorn an Unterwäsche, Leibchen, Socken oder Hemden gleichmäßig an die hungrige Meute zu verteilen. Und weil ich selbst als viertes Kind aus meiner eigenen Familie vorbelastet bin – ich musste die alten Kleider, benutzten Schultaschen und Schuhe meiner älteren Geschwister tragen – verstehe ich seine Frustration, weil seine Geschwister seinen Verzicht als etwas Selbstverständliches wahrnehmen. Warum er es tut, liegt vielleicht an seiner Prägung, an seinen Genen – die er sicher nicht von mir hat, denn ich tat mich im Nachgeben immer sehr schwer – oder schlichtweg an seinem Hang, jeder Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Gerne stecke ich ihm dann eine Süßigkeit mehr in seine Schultasche, sorge dafür, dass er immer um zwei Paar Socken mehr in seiner Schublade hat oder dulde eine weitere Stunde des nächtlichen Heimkommens. Dies bleibt natürlich vor den anderen nicht unbeobachtet. Ich bin dann die ungerechte, die streitbare, die unfaire Mutter, die es nicht gerne sieht, wenn eines meiner Kinder zu kurz kommt. Als die anderen Jungs es wieder einmal zu bunt trieben, forderte ich Felix auf, sich endlich zu wehren. Es konnte doch nicht sein, dass er ständig auf alles verzichten musste. Wie sehr ich mich in ihm getäuscht hatte! Auf meine Aufforderung entgegnete er mir in einer Besonnenheit, die mich umwarf: „Mama, ich komme nicht zu kurz. Sie ziehen jetzt in ihrer Hast und Gier vielleicht die Hosen an, die sie glauben tragen zu müssen, ich aber habe dann den ganzen Kasten für mich alleine und kann unter zehn verschiedenen Dingen wählen, ich kann warten!“ War das nur eine hochintelligente listige Strategie, um an sein Ziel zu kommen oder ein ehrliches Nachgeben? Es ist ein Phänomen unserer westlichen scheinbar hochzivilisierten Kultur, sich ständig übervorteilt, überrumpelt und überrollt vorzukommen. Im Grunde handelt es sich um ein reines Gefühl, ewig den Kürzen zu ziehen. Es ist aber eben nur ein Gefühl, und Gefühle können täuschen. Ein altes Sprichwort sagt: „Der Gescheitere gibt nach, der Esel fällt in den Bach.“ Dankbarkeit oder Anerkennung als Gegengeschäft zu erwarten, verstehe ich nicht als Nachgiebigkeit, vielleicht aber die Erkenntnis, sich dadurch freier von Zwängen zu machen. Auch Felix ist erwachsener geworden, er gibt immer noch seine Leibchen und Socken seinen streitbaren Brüdern, ohne mit Süßigkeiten dafür belohnt zu werden. Und er hat seine Brüder mit dieser Einstellung dazu gebracht, ihn zumindest um diese Gefälligkeit zu bitten oder selbst einmal auf ein gewünschtes Leibchen zu verzichten. Katharina Grabner-Hayden ist verheiratet und hat vier Söhne.
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