Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
März / April


Blick zurück – und nach vorne
Gott führt mich hinaus ins Weite

Franz von Sales ermutigt immer wieder dazu, meine Vergangenheit, gerade mit ihren schmerzlichen Seiten, mit Gott anzublicken, weil in Ihm alles gut aufgehoben ist. Gedanken dazu von P. Johannes Haas OSFS.

Geschichten hat Franz von Sales geschätzt, mit ihnen hat er Gottes Geschichte mit uns Menschen erschlossen. Hätte er die Geschichte vom Wunderknaben gekannt, hätte er sie vielleicht erzählt, als er im fünften Teil seiner „Philothea“ das dritte Kapitel schrieb. Franz lädt einmal im Jahr zu einem Rückblick auf mein Leben ein. Wie sehe ich im Rück-Blick mein Leben mit Gott, mit Menschen, mit mir?

Rückblick

Im Rückblick sieht auch der Wunderknabe sein Leben. Als Wunderknabe wuchs er auf, mit wunderbaren Perspektiven brach er auf.
„So machte er sich auf die Wanderschaft und nahm sich vor, die ganze Welt, über die er immer gesprochen hatte, nun auch zu berühren. Doch kaum eine Stunde von zu Hause kam er an einen Scheideweg, der ihn zwang, zwischen drei Möglichkeiten zu wählen, denn nicht einmal ein Wunderknabe kann zugleich in verschiedene Richtungen gehen. Er ging geradeaus weiter und musste dabei links ein Tal und rechts ein Tal ungesehen liegen lassen.“ Bei jeder Wegkreuzung wird sein Leben enger, werden seine Worte weniger, ist er weniger Wunderknabe, mehr Durchschnittsmensch. „So ging er und wurde älter dabei, war schon längst kein Wunderkind mehr, hatte tausend Wege verpasst und Möglichkeiten auslassen müssen. Er machte immer weniger Worte, und kaum jemand kam noch, ihn anzuhören. Er setzte sich auf einen Meilenstein und sprach nun nur noch zu sich selbst: ‚Ich habe immer nur verloren: an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin mein Leben lang kleiner geworden. Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt ….‘ Müde, wie er war, ging er dennoch den Weg zu Ende, den er einmal begonnen hatte, es blieb ja nur noch ein kurzes Stück. Abzweigungen gab es jetzt keine mehr, nur eine Richtung war noch übrig und von allem Wissen und Reden nur ein einziges letztes Wort, für das der Atem noch reichte. Er sagte das Wort, das niemand hörte, und schaute sich um und merkte erstaunt, dass er auf einem Gipfel stand. Der Boden, den er verloren hatte, lag in Terrassen unter ihm. Er überblickte die ganze Welt, auch die verpassten Täler, und es zeigte sich also, dass er im Kleiner- und Kürzerwerden ein Leben lang aufwärts gegangen war.“
Er ist am Ende. Das Ende wird für ihn zur Wende. Er blickt zurück und sieht sein Leben anders, in neuem Licht. Er sieht ein: Ich bin kleiner und zugleich größer geworden. Mein Lebensradius ist kürzer und zugleich weiter.  Ich habe nicht den Kürzeren gezogen. Ich ziehe in die Richtung, die für mich richtig ist. ICH bin ICH geworden. Ich bin gewachsen und gereift: vom Wunderknaben zum wunderbaren Menschen.
Zu einem Rückblick lädt auch Franz von Sales ein. Für ihn ist klar: Wir Menschen sind keine Engel, wir sind Menschen mit Fleisch und Blut, mit Sehnsucht und Scheitern, mit Leidenschaft, die Leiden schafft. Er sagt von sich selbst: „Ich bin nichts so sehr als ein Mensch.“

Einblick

Franz weiß aus eigener Erfahrung, was ein Rückblick auf gelebtes Leben auslösen kann: Enttäuschung, Mutlosigkeit, Mangel an Selbstvertrauen. Deshalb gibt er den Rat: „Beteure, dass du in keiner Weise der Mutlosigkeit oder Verzagtheit Raum geben willst, falls du in dir keinen Fortschritt, sondern im Gegenteil einen Rückgang feststellen solltest; du wollest deshalb nicht niedergeschlagen sein, sondern mutiger, dich noch mehr ermuntern, dich demütigen und mit Gottes Gnade daran arbeiten, deine Fehler zu überwinden.“ (Philothea V,3)
Im Rückblick gibt Franz Gefühlen Raum. Alles, was in mir ist, darf da sein. Es darf Raum bekommen, um von mir wahrgenommen zu sein. Aber ich gebe ihm nicht mehr Raum als es für mich heilsam ist. Ich räume ihm nicht unnötig große Spielräume ein. Mein Entfaltungsraum ist die Gegenwart Gottes. Gott spielt für mich die zentrale Rolle. Vor IHM demütige ich mich, nehme ich mir Mut, mich so anzunehmen wie ich bin. Mit Seiner Gnade arbeite ich an mir. Nicht aus eigener Kraft heraus muss ich meine Fehler überwinden. „Mein Gnade genügt dir“ (2 Kor 12,9), sagt Gott auch zu mir. Gottes Gnade hält mich im Gleichgewicht mit mir. Nimmt in mir die Mutlosigkeit zu, kann ich in Demut Gott um Mut für mich bitten. Werde ich zunehmend verzagt, wird Gottes Gnade in mir zunehmen. Gott ist im Raum. Deshalb brauche ich solchen Stimmungen nicht mehr Raum einräumen. Gott ist in meinem Rückblick. Deshalb kann ich mit Vertrauen auf mein Leben zurückblicken – im vergangenen Jahr, in früheren Jahren. Auch wenn ich meine, mein Leben sei enger geworden: „ER führt mich hinaus ins Weite.“ (Ps 18,20) Auch wenn mir mein Leben klein vorkommt, darf ich mein Magnifikat anstimmen: „Meine Seele preist die Größe des Herrn.“ (Lk 1,46) Oder mit einem Lied von heute: „Groß sein lässt meine Seele den Herrn“.
Franz von Sales macht Mut zum Rückblick auf mein Leben. Und er macht Mut mein Leben mit Gott anzublicken. Rückblick mit Gott ist mehr als Rückblick mit mir. Ich mit mir könnte in ungute Stimmungen fallen. Ich vor Gott kann mich mit meinen Stimmungen in Gott hinein fallen lassen. ER hält sie im Gleichgewicht.

Ausblick

Während ich dies schreibe, schreibe ich mir meinen eigenen Wunsch von der Seele. Blicke ich zurück, fällt mir das Wort auf meinem Primizbild ein, ein wegweisendes Wort von Frère Roger Schutz in Taizé: „Christus, Du öffnest mir den Weg zum Wagnis. Das Nein in mir verwandelst du Tag um Tag in ein Ja. Du willst von mir nicht nur einige Bruchstücke, sondern mein ganzes Dasein.“
 Im Rückblick spüre ich mein Nein, meine Bedenken und Widerstände, meine Ausreden und Einsprüche. Ich kann mein NEIN in seinen Gesichtern und Masken ansehen. Ich kann es IHM anvertrauen. ER wandelt es in ein JA. ER ist Gottes JA zu uns, zu mir.

Fragen, die sich stellen, denen ich mich stellen kann:

  • Wie lerne ich mit dem NEIN in mir leben?
  • Wie lasse ich in mir neues JA wachsen?
  • Wie kann ich mit meinen Umwegen
  • umgehen, an Irrwegen nicht irre werden?
  • Wie wende ich meinen Blick auf Ziele, die mir vor Augen stehen?

„Welches Ziel schwebt uns vor?“, fragt P. Brisson für unsere Ordensgemeinschaft. „Welches Ziel schwebt mir vor?“, kann ich mich fragen, wenn ich mit Franz von Sales auf mein Leben zurückblicke und vorausblicke.
Aus Rückblick wächst Einblick, aus Einblick Ausblick.                                            

P. Johannes Haas OSFS ist Rektor im Salesianum und Hochschulpfarrer in der Katholischen Hochschulgemeinde Eichstätt, Bayern.

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