Blick zurück – und nach vorne
Gott führt mich hinaus ins Weite
Franz von Sales ermutigt immer wieder dazu, meine Vergangenheit, gerade
mit ihren schmerzlichen Seiten, mit Gott anzublicken, weil in Ihm alles
gut aufgehoben ist. Gedanken dazu von P. Johannes Haas OSFS.
Geschichten hat Franz von Sales geschätzt, mit
ihnen hat er Gottes Geschichte mit uns Menschen erschlossen. Hätte
er die Geschichte vom Wunderknaben gekannt, hätte er sie vielleicht
erzählt, als er im fünften Teil seiner „Philothea“ das
dritte Kapitel schrieb. Franz lädt einmal im Jahr zu einem Rückblick
auf mein Leben ein. Wie sehe ich im Rück-Blick mein Leben mit Gott,
mit Menschen, mit mir?
Rückblick
Im Rückblick sieht auch der Wunderknabe sein Leben. Als Wunderknabe
wuchs er auf, mit wunderbaren Perspektiven brach er auf.
„So machte er sich auf die Wanderschaft und nahm sich vor, die ganze
Welt, über die er immer gesprochen hatte, nun auch zu berühren. Doch
kaum eine Stunde von zu Hause kam er an einen Scheideweg, der ihn zwang, zwischen
drei Möglichkeiten zu wählen, denn nicht einmal ein Wunderknabe kann
zugleich in verschiedene Richtungen gehen. Er ging geradeaus weiter und musste
dabei links ein Tal und rechts ein Tal ungesehen liegen lassen.“ Bei
jeder Wegkreuzung wird sein Leben enger, werden seine Worte weniger, ist er
weniger Wunderknabe, mehr Durchschnittsmensch. „So ging er und wurde älter
dabei, war schon längst kein Wunderkind mehr, hatte tausend Wege verpasst
und Möglichkeiten auslassen müssen. Er machte immer weniger Worte,
und kaum jemand kam noch, ihn anzuhören. Er setzte sich auf einen Meilenstein
und sprach nun nur noch zu sich selbst: ‚Ich habe immer nur verloren:
an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin mein Leben lang kleiner geworden.
Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt ….‘ Müde,
wie er war, ging er dennoch den Weg zu Ende, den er einmal begonnen hatte,
es blieb ja nur noch ein kurzes Stück. Abzweigungen gab es jetzt keine
mehr, nur eine Richtung war noch übrig und von allem Wissen und Reden
nur ein einziges letztes Wort, für das der Atem noch reichte. Er sagte
das Wort, das niemand hörte, und schaute sich um und merkte erstaunt,
dass er auf einem Gipfel stand. Der Boden, den er verloren hatte, lag in Terrassen
unter ihm. Er überblickte die ganze Welt, auch die verpassten Täler,
und es zeigte sich also, dass er im Kleiner- und Kürzerwerden ein Leben
lang aufwärts gegangen war.“
Er ist am Ende. Das Ende wird für ihn zur Wende. Er blickt zurück
und sieht sein Leben anders, in neuem Licht. Er sieht ein: Ich bin kleiner
und zugleich größer geworden. Mein Lebensradius ist kürzer
und zugleich weiter. Ich habe nicht den Kürzeren gezogen.
Ich ziehe in die Richtung, die für mich richtig ist. ICH bin ICH
geworden. Ich bin gewachsen und gereift: vom Wunderknaben zum wunderbaren
Menschen.
Zu einem Rückblick lädt auch Franz von Sales ein. Für
ihn ist klar: Wir Menschen sind keine Engel, wir sind Menschen mit Fleisch
und Blut, mit Sehnsucht und Scheitern, mit Leidenschaft, die Leiden schafft.
Er sagt von sich selbst: „Ich bin nichts so sehr als ein Mensch.“
Einblick
Franz weiß aus eigener Erfahrung, was ein Rückblick auf gelebtes
Leben auslösen kann: Enttäuschung, Mutlosigkeit, Mangel an
Selbstvertrauen. Deshalb gibt er den Rat: „Beteure, dass du in
keiner Weise der Mutlosigkeit oder Verzagtheit Raum geben willst, falls
du in dir keinen Fortschritt, sondern im Gegenteil einen Rückgang
feststellen solltest; du wollest deshalb nicht niedergeschlagen sein,
sondern mutiger, dich noch mehr ermuntern, dich demütigen und mit
Gottes Gnade daran arbeiten, deine Fehler zu überwinden.“ (Philothea
V,3)
Im Rückblick gibt Franz Gefühlen Raum. Alles, was in mir ist,
darf da sein. Es darf Raum bekommen, um von mir wahrgenommen zu sein.
Aber ich gebe ihm nicht mehr Raum als es für mich heilsam ist. Ich
räume ihm nicht unnötig große Spielräume ein. Mein
Entfaltungsraum ist die Gegenwart Gottes. Gott spielt für mich die
zentrale Rolle. Vor IHM demütige ich mich, nehme ich mir Mut, mich
so anzunehmen wie ich bin. Mit Seiner Gnade arbeite ich an mir. Nicht
aus eigener Kraft heraus muss ich meine Fehler überwinden. „Mein
Gnade genügt dir“ (2 Kor 12,9), sagt Gott auch zu mir. Gottes
Gnade hält mich im Gleichgewicht mit mir. Nimmt in mir die Mutlosigkeit
zu, kann ich in Demut Gott um Mut für mich bitten. Werde ich zunehmend
verzagt, wird Gottes Gnade in mir zunehmen. Gott ist im Raum. Deshalb
brauche ich solchen Stimmungen nicht mehr Raum einräumen. Gott ist
in meinem Rückblick. Deshalb kann ich mit Vertrauen auf mein Leben
zurückblicken – im vergangenen Jahr, in früheren Jahren.
Auch wenn ich meine, mein Leben sei enger geworden: „ER führt
mich hinaus ins Weite.“ (Ps 18,20) Auch wenn mir mein Leben klein
vorkommt, darf ich mein Magnifikat anstimmen: „Meine Seele preist
die Größe des Herrn.“ (Lk 1,46) Oder mit einem Lied
von heute: „Groß sein lässt meine Seele den Herrn“.
Franz von Sales macht Mut zum Rückblick auf mein Leben. Und er macht
Mut mein Leben mit Gott anzublicken. Rückblick mit Gott ist mehr
als Rückblick mit mir. Ich mit mir könnte in ungute Stimmungen
fallen. Ich vor Gott kann mich mit meinen Stimmungen in Gott hinein fallen
lassen. ER hält sie im Gleichgewicht.
Ausblick
Während ich dies schreibe, schreibe ich mir meinen eigenen Wunsch
von der Seele. Blicke ich zurück, fällt mir das Wort auf meinem
Primizbild ein, ein wegweisendes Wort von Frère Roger Schutz in
Taizé: „Christus, Du öffnest mir den Weg zum Wagnis.
Das Nein in mir verwandelst du Tag um Tag in ein Ja. Du willst von mir
nicht nur einige Bruchstücke, sondern mein ganzes Dasein.“
Im Rückblick spüre ich mein Nein, meine Bedenken und Widerstände,
meine Ausreden und Einsprüche. Ich kann mein NEIN in seinen Gesichtern
und Masken ansehen. Ich kann es IHM anvertrauen. ER wandelt es in ein JA. ER
ist Gottes JA zu uns, zu mir.
Fragen, die sich stellen, denen ich mich stellen kann:
- Wie lerne ich mit dem NEIN in mir
leben?
- Wie lasse ich in mir neues JA wachsen?
- Wie kann ich mit meinen Umwegen
- umgehen, an Irrwegen nicht irre
werden?
- Wie wende ich meinen Blick auf Ziele, die mir vor Augen stehen?
„Welches Ziel schwebt uns vor?“, fragt P. Brisson für
unsere Ordensgemeinschaft. „Welches Ziel schwebt mir vor?“,
kann ich mich fragen, wenn ich mit Franz von Sales auf mein Leben zurückblicke
und vorausblicke.
Aus Rückblick wächst Einblick, aus Einblick Ausblick.
P. Johannes Haas OSFS ist Rektor im Salesianum und Hochschulpfarrer
in der Katholischen Hochschulgemeinde Eichstätt, Bayern.
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