Franz von Sales führt uns zur Mitte
der Botschaft Jesu Christi

Interview mit P. Aldino Kiesel OSFS, der seit 5. August 2006 der 11. Generalobere der Oblaten des hl. Franz von Sales ist.

P. Aldino Kiesel OSFS, 11. Generaloberer der Sales-OblatenWie verlief Ihr Leben bis zur Priesterweihe?

Ich bin am 13. Juli 1958 in Sao Martinho – Bundesstaat Rio Grande do Sul – im Süden Brasiliens geboren. Meine Familie lebte von der Landwirtschaft. Die Elektrizität bekamen wir erst, nachdem ich ins Seminar eingetreten war.
Im Alter von 12 Jahren lernte ich den ersten Oblaten des hl. Franz von Sales kennen: P. Lorenz van der Raadt. Er war der Beauftragte für Berufungspastoral und besuchte unsere Schule. Wir waren insgesamt drei aus unserer Klasse, die ins Seminar gingen (die beiden anderen traten ins Seminar der Franziskaner ein).
Einige Monate später war ich schon in Braga, im Kleinen Seminar unserer Kongregation. Obwohl ich nur 40 Kilometer von zu Hause entfernt war, war es eine Tagesreise bis nach Hause, da es schlechte Straßen und so gut wie keine Omnibusverbindung gab.
1980 machte ich das Noviziat in Jaboticaba. Am 1.1.1985 feierte ich die Ewigen Gelübde und am 27.12.1986 wurde ich zum Priester geweiht.

Warum wurden Sie Oblate des hl. Franz von Sales?

Das ist eine gute Frage! Ich erinnere mich, dass ich gleich zu Beginn, nachdem ich etwas vom hl. Franz von Sales kennengelernt hatte, mich von seinem Lebensstil und seiner Lehre angezogen fühlte. Ich kann sagen, dass ich mich von Franz von Sales fesseln ließ. Gleich von Beginn an fühlte ich mich provoziert, wie er zu leben. Was ich hörte oder über sein Leben und seine Spiritualität las, war wie ein Nahrungsmittel, das ich benötigte. Es ist dies ein immer aktueller Lebensstil, der niemals veraltet ist. Franz von Sales führt uns genau zur Mitte der Botschaft von Jesus Christus selbst. Franz von Sales hat die Tiefe und Schönheit der Liebe Gottes selbst erfahren und hat diese Erfahrung zur zentralen Lebensachse gemacht. Für Jesus Christus ist die Liebe das einzige Gebot; für den hl. Franz von Sales war das Liebesgelübde ausreichend für das Ordensleben.
Für die heutige Welt, die von soviel Ungerechtigkeit, Gewalt, Kriegen, Hass und Rache gezeichnet ist, ist der Lebensstil des Franz von Sales eine Antwort. Daran glaube ich. Wenn die Rache eine Versuchung darstellt, wenn man oftmals mit aggressiven Einstellungen auf Gewalt reagiert, wenn man mit Gewalt eine Lösung herbeiführen will, dann kommt Franz von Sales mit einer anderen Methode: „Versuche niemals eine andere Art und Weise als die mit Liebe!“ Je mehr es uns gelingt, diesen Stil des Evangeliums zu inkarnieren, desto mehr werden sich die Früchte zeigen.

Wo waren Sie bisher in der Südamerikanischen Region tätig?

Von den 20 Jahren meines Priestertums widmete ich in erster Linie 14 Jahre der Ausbildung künftiger Oblaten. Für mehrere Jahre wurde mir die Ausbildung der Novizen in unserer Region anvertraut. Außerdem war ich in der Ausbildung der Scholastiker tätig. Neben dieser Ausbildungstätigkeit für junge Oblaten arbeite ich auch in der Pfarrei Santa Isabel (an der Peripherie von Porto Alegre). Ich begleitete auch salesianische Exerzitien für Laien und war geistlicher Assistent der Schwestern des Säkularinstituts des hl. Franz von Sales (Gruppe Porto Alegre). Ich nehme wahr, dass die Laien einen Hunger nach einem spirituellen Leben haben, und wir können die Nahrung dafür anbieten. Der hl. Franz von Sales schrieb die Philothea für Laien, und wir dürfen diesen spirituellen Reichtum den ursprünglichen Adressaten nicht vorenthalten. In den letzten Jahre war ich dann der Regionalobere der Region Südamerika.

Was sind die größten sozialen, politischen und ökonomischen Probleme in Südamerika?

Seit der Landung der Kolonisatoren, besonders der Portugiesen, um 1500 wurde der südamerikanische Kontinent als eine neue Welt betrachtet, die es auszubeuten, und nicht als eine Welt, die es zu entwickeln galt. Die Folgen daraus sind bis heute spürbar. Unzählige multinationale Firmen haben sich hier niedergelassen – einige, um billige Arbeitskraft auszunützen, andere, um mineralische Reichtümer zu fördern.
Vielleicht ist das größte gegenwärtige Problem die anhaltende soziale Ungleichheit. Es gibt wenige Superreiche und viele sehr Verarmte. Das gewichtige Problem der großen Städte ist augenscheinlich die Unsicherheit. Es gibt viele Überfälle, Gewalt und Morde. Es gibt einen wachsenden Handel mit und Konsum von Drogen, besonders in den Favelas (Anm. d. Ü.: = Armenvierteln). Das große Problem unzähliger Schulen heute ist der Konsum von Drogen durch Schüler: Wie kann man vermeiden, dass Drogen in die Schule eindringen? In Wahrheit ist der wachsende Drogenkonsum nicht eine Ursache, sondern eine Folge. In dem Bemühen, sich auf jede erdenkliche Weise zu bereichern, gibt es einen Kampf, um immer mehr Konsumenten zu bekommen. Der Mangel an Arbeit und die Unsicherheit der eigenen Zukunft führen zur Hoffnungslosigkeit vieler Jugendlicher und zum Eintritt in die Welt der Drogen.
In politischer Hinsicht gibt es immer mehr Regierungen, die politisch linksorientiert sind, da auch die Organisationen zum Schutz der Armen in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind. Ein Problem für die Regierungen besteht darin, dass sie durch das Faktum von Privatisierungen viel Einfluss verloren haben. Praktisch gesehen hat der immer mehr Macht, der im Besitz ökonomischer Macht ist. Die Privatisierung hat den politischen Regierungen Macht genommen und diese denen übergeben, die ökonomische Macht besitzen.

Was können oder müssen die Sales-Oblaten zum Wohl des südamerikanischen Kontinents tun?

Unsere Satzungen sagen unmissverständlich: „Die Oblaten sind also gerufen, in die Gesellschaft, so wie sie ist, einzutreten, und sie christlich zu machen, und das mit allen möglichen Mitteln. Die Kongregation der Oblaten des heiligen Franz von Sales setzt sich in besonderer Weise dafür ein, die Gerechtigkeit gegenüber den Unterdrückten und Benachteiligten durch geeignete Apostolate oder Tätigkeiten zu fördern“ (K 12). Insbesondere versuchen wir solidarisch mit den Ärmsten zu sein. Die Verarmten erwarten nicht, dass wir ihre Probleme lösen, sondern möchten spüren, dass sie in ihrem Kampf für Gerechtigkeit, Würde und Frieden nicht alleine sind. Unsere Sendung als Oblaten inmitten der Menschen heißt für uns: präsent zu sein in den Organisationen des armen Volkes; deren Weg mit dem Wort Gottes und dem salesianischen Geist zu erhellen; fähig sein, zu hören, aufzuklären, zu unterstützen und zu feiern.

Welche Aspekte der Spiritualität des heiligen Franz von Sales sind besonders wichtig für Südamerika?

Ich glaube, dass unsere Ordenssatzungen  (K 16) uns bei der Beantwortung dieser Frage behilflich sind. Dass wir überhaupt etwas inmitten des Volkes als Oblaten bewirken können, setzt voraus, dass wir uns kontinuierlich darum bemühen, uns innerlich mit Christus zu identifizieren. Christus selbst erwünscht so sehr die volle Befreiung des Volkes, dass er sogar sein Leben für diese Sache hergibt. Jede Arbeit von uns inmitten dieses Volkes kann nicht nur unserem Bestreben entspringen, sondern weil wir dem Willen Gottes gehorsam sein wollen. Einen tiefen Respekt für die Würde eines jedes Menschen zu haben ist ein anderer Aspekt unserer salesianischen Spiritualität, den wir glaubhaft leben müssen.
Wir bemerken heute, dass es einen großen Durst nach Spiritualität gibt. Wir müssen eine Mystik pflegen, die in der Lage ist, den Einsatz für Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit zu unterstützen. Dies stellt ein langes und beschwerliches Bemühen dar. Und genau darin können wir einen großen Reichtum anbieten: den unerschöpflichen Schatz unserer salesianischen Spiritualität. Die Spiritualität hilft uns, die inneren Kräfte in uns zu bündeln und auf ein gleiches Ziel hin auszurichten. Wir bieten immer mehr salesianische Einkehrtage für Laien an, die mit uns zusammenarbeiten. Das ist eine wichtige Nahrung für das Unterwegsein des Volkes.

Wenn man in Europa über die Kirche Südamerikas spricht, so besonders über die „Theologie der Befreiung“. Was bedeutet für Sie persönlich der Begriff „Befreiung“?

Ich mache folgende Unterscheidung: man kann in einem eher humanitären, sozialen oder psychologischen Sinn von Befreiung sprechen. Ja, die Soziologie und die Psychologie haben sich in den letzten Jahrzehnten beachtlich entwickelt und helfen in der Tat vielen Menschen. Wir spüren aber alle, das wir auf der Suche nach noch etwas mehr sind. Der berühmte Satz des hl. Augustinus sagt viel über das menschliche Wesen aus: „Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in Dir, Herr.“ Wir suchen folglich eine Befreiung, die über eine mögliche Befreiung durch Soziologie, Politik und Psychologie hinausgeht.
Die Theologie der Befreiung hilft uns viel, der Unterdrückungen bewusst zu werden, die das Leben des südamerikanischen Volkes schwer machen. Diese Theologie ist auch ein Hilfe für die Organisation des Volkes. Viele soziale und politische Fortschritte, die bereits erreicht worden sind, stützen sich auf die klare Hilfe dieser Art von Theologie. Aber, was ist geschehen? Es scheint, dass jede Form von Moderne – und innerhalb dieser auch die Theologie der Befreiung – sehr den Verstand, die Vernunft entwickelt hat. Das Herz blieb dabei unterentwickelt. Es mangelte, einen Raum des Wohlwollens, einen Raum affektiver Beziehungen zwischen den Menschen und einen Raum der Vertrautheit mit dem Herrn zu pflegen. Die Moderne hat uns zu einer Zerstückelung (Fragmentisierung) der Person gebracht. Spiritualität ist an das Mysterium gebunden, das ein integrativer Bestandteil unseres Seins ist. Und was wichtig ist: die Spiritualität verhilft der Person zur Einheit und bei der Sinnsuche des Lebens und der Dinge. Es erhebt sich aber auch eine andere Schwierigkeit: man sucht eine spirituelle Erfahrung, aber keine Verpflichtung mit einer Institution. Es scheint, dass sich heute jede Institution in der Krise befindet: die Kirche, die Schule, die Familie. Was zählt, ist die geistliche Erfahrung und nicht die Verpflichtung gegenüber etwas Institutionalisiertem. Daher ist es für die Menschen einfach, ständig die Religion zu wechseln.

Was sind Ihre Träume oder Hoffnungen mit Blick auf die Zukunft der Sales-Oblaten und Ihres Landes?

Ich bin glücklich, Oblate zu sein. Ich glaube, dass die Berufung zum Oblaten und Priester der Weg war, auf dem Gott mich zu einem Leben in Fülle führen wollte. Mir hilft das salesianische Prinzip, jeden gegenwärtigen Augenblick gut zu leben. Wer fähig ist, in Einheit mit Gott zu leben und Nächstenliebe hier und jetzt zu praktizieren, der bereitet sich darauf vor, auch in Zukunft so zu leben.
Seit 1. Januar 03 haben wir in Brasilien zum ersten Mal seit 500 Jahren einen Präsidenten, der wirklich aus dem Volk stammt. Dies bringt viele neue Hoffnungen mit sich. Ich glaube wirklich, dass wir Veränderungen, besonders im sozialen Bereich, haben werden. Ich glaube, dass eine neue Phase in der politischen Geschichte Brasiliens im Begriff ist zu entstehen. Allein die Zukunft wird uns sagen, bis zu welchem Grad unsere Träume Wirklichkeit geworden sind.
Was unsere Kongregation betrifft, so wird sich wenigstens noch einige Jahre die Tendenz einer zahlenmäßigen Abnahme der OSFS fortsetzen. Ich erinnere mich auf verschiedene Weise dem Beginn des Christentums. Nach seinem öffentlichen Leben blieb Jesus nur eine Gruppe von 11 Männern übrig, die sich ihm verpflichtet wussten. Entscheidend ist aber dabei, dass die 11 Männer ihr Leben für das gaben, an das sie glaubten. Daher nennen wir sie die Säulen der Kirche. Danach blieb die Kirche drei Jahrhunderte lang eine Minderheit, eine verfolgte Gruppierung, die ein schlechter Ruf im römischen Reich begleitete. Aber das Zeugnis dieser Christen erhielt die Kirche lebendig. Ich glaube, dass wir uns als Kongregation mehr unseren Quellen zuwenden und unsere besondere Sendung in der Kirche klären werden. Wir befinden uns derzeit in einem Prozess der Reinigung. Die Qualität zählt viel mehr als die Quantität.
Wir werden in Zukunft Berufungen in unserer Kongregation haben, sofern wir Oblaten ein Beispiel dafür abgeben, dass wir glücklich sind und uns in unserer Berufung ganz verwirklicht sehen. Dringlicher als viel zu arbeiten ist, ein großes Zeugnis für die Freude zu geben. „Mit einem Löffel Honig fängt man mehr Fliegen als mit einem Fass voll Essig“, sagt Franz von Sales.

Die Fragen stellte P. Herbert Winklehner OSFS, für die Übersetzung aus dem Brasilianisch-Portugiesischen sorgte P. Thomas Günther OSFS.

 

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