Die wichtigsten Weisungen gegen die gewöhnlichen Versuchungen
Vierter Teil
     
 

HOME | VORIGES KAPITEL | INHALT | NÄCHSTES KAPITEL

13. Kapitel
Vom Verhalten in fühlbaren geistlichen Freuden.

I.

Gott lässt den Bestand der Welt in ständigem Wechsel vor sich gehen: Der Tag wird zur Nacht, der Frühling zum Sommer, der Sommer zum Herbst, dieser zum Winter und der Winter wieder zum Frühling. Kein Tag gleicht vollkommen dem anderen: bewölkte, regnerische wechseln mit heiteren und stürmischen ab. Diese bunte Verschiedenheit gibt dem Weltall seine große Schönheit.
So geht es auch dem Menschen, der ja nach den alten griechischen Philosophen eine Welt im Kleinen ist. Niemals bleibt er im gleichen Zustand. Sein Leben strömt hienieden dahin wie das Wasser: es kann ruhig hinströmen und dann wieder gewaltige Wogen schlagen, die es emporheben in freudiger Hoffnung, aber auch in tiefe Täler banger Furcht hinabschleudern, es zur Rechten hintreiben durch die Freude, dann wieder zur Linken durch das Leid. Kein Tag gleicht dem anderen, ja nicht einmal eine Stunde ist ganz wie die andere.
Da ergeht an uns die ernste Mahnung, uns zu bemühen, dass wir bei aller Wandelbarkeit der Ereignisse beständigen und unerschütterlichen Gleichmut bewahren. Mag alles um uns herum dauernd sich ändern, wir müssen unveränderlich fest dabei bleiben, stets auf Gott hin zu schauen, zu streben und zu arbeiten.
Mag das Schiff diesen oder jenen Kurs nehmen, mag es nach Westen oder Osten, nach Süden oder Norden steuern, mag dieser oder jener Wind es treiben, die Kompassnadel wird doch stets nach Norden zeigen. Mag nicht nur um uns herum, sondern auch in uns alles drunter und drüber gehen, mag unsere Seele traurig oder vergnügt und fröhlich, verbittert und unruhig oder friedlich, im Licht oder in der Finsternis der Versuchung, mag sie ruhig und voll Freude oder voll Ekel sein, in Trockenheit oder Seligkeit, mag die Sonne sie versengen oder der Tau sie erfrischen: immer soll unser Herz, unser Geist und der höhere Wille gleich der Kompassnadel unablässig auf die Gottesliebe als ihr einziges und höchstes Gut schauen und ausgerichtet sein.
„Ob wir leben oder sterben“, sagt der Apostel, „wir gehören Gott an“ (Röm 14,8). „Wer wird uns von der Liebe Gottes trennen?“ Nein, nichts wird uns je von dieser Liebe trennen, weder Leid noch Angst, weder Tod noch Leben, weder gegenwärtiges Leid noch Furcht vor zukünftigem Unglück oder den Ränken des bösen Feindes, weder die Höhen geistlicher Freuden noch Tiefen der Trübsal, weder Gefühlsüberschwang noch geistliche Dürre: „Nichts wird uns trennen von dieser heiligen Liebe, die in Jesus Christus begründet ist“ (Röm 8,35).
Dieser unwandelbare Entschluss, niemals Gott zu verlassen oder seine beglückende Liebe aufzugeben, dient unserer Seele als Gegengewicht, um sie in heiligem Gleichmut mitten im Wandel der wechselnden Lebensumstände und Ereignisse zu halten. Wenn die Bienen auf offenem Feld vom Sturm überrascht werden, umklammern sie Steinchen, um im Flug das Gleichgewicht besser zu bewahren und nicht vom Ziel abgetrieben zu werden. So umklammert auch unsere Seele durch einen kräftigen Entschluss die überaus kostbare Liebe zu ihrem Gott und bleibt dann fest inmitten des Um und Auf der geistlichen und körperlichen, äußeren wie inneren Freuden und Leiden.

II.

Soweit die allgemein gültige Lehre. Wir brauchen nun aber noch besondere Anweisungen.
1. Ich sage also, dass die Frömmigkeit nicht in der Süßigkeit des Trostes, in fühlbarer Zärtlichkeit des Herzens besteht, die in uns Tränen und Seufzer hervorrufen und uns in geistlichen Übungen eine bestimmte wohltuende Befriedigung empfinden lässt. Nein, diese Dinge sind bestimmt nicht mit der Frömmigkeit gleichzusetzen. Es gibt Seelen, die solche Zärtlichkeiten und Tröstungen genießen und trotzdem sehr lasterhaft sind, folglich nicht die wahre Gottesliebe und noch weniger eine echte Frömmigkeit besitzen.
Saul trat bei der Verfolgung Davids in der Wüste En-Gedi allein in eine Höhle, in der sich David und seine Getreuen verborgen hielten. David hätte ihn bei dieser Gelegenheit leicht töten können; er schenkte ihm aber das Leben und wollte ihn nicht einmal erschrecken. Deshalb rief er ihn erst an, nachdem er die Höhle wieder verlassen hatte; damit wollte er ihn überzeugen, dass er nichts Böses gegen ihn plane, zugleich aber sollte Saul erkennen, dass er soeben dem ausgeliefert war, den er verfolgte.
Was tat nun Saul nicht alles, um zu zeigen, dass seine Gesinnung gegen David sich geändert habe! Er nannte ihn seinen Sohn, weinte laut, lobte David ob seiner Güte, betete zu Gott für ihn, sagte seine künftige Größe voraus und empfahl ihm seine Nachkommen (vgl. 1 Sam 24). Konnte er wohl eine zärtlichere Liebe zeigen? Trotzdem hatte er seine Gesinnung nicht geändert und verfolgte David weiterhin ebenso grausam wie zuvor.
So gibt es auch Leute, die bei der Betrachtung der Güte Gottes und der Leiden Jesu in zärtlicher Liebe zerfließen, seufzen und weinen, innig beten und Dank sagen; man möchte meinen, ihr Herz sei von einer ganz großen Frömmigkeit ergriffen. Kommt es aber zur Bewährung, so geht es wie bei einem Platzregen im heißen Sommer: wie dort die schweren Tropfen zwar auf die Erde fallen, aber nicht eindringen und nur Pilze sprießen lassen, so fallen auch diese Tränen und Zärtlichkeiten auf ein lasterhaftes Herz, dringen aber nicht ein und sind deshalb ganz und gar unnütz. Diese bedauernswerten Leute würden trotz alldem nicht einen Pfennig des unredlich erworbenen Vermögens herausgeben, nicht auf eine einzige ihrer verkehrten Neigungen verzichten, auch nicht die geringste Unbequemlichkeit im Dienste des Heilands auf sich nehmen, über den sie so heiße Tränen vergossen haben. So sind ihre guten Regungen wertlosen Pilzen vergleichbar: nicht echte Frömmigkeit, sondern oft nur eine große List des bösen Feindes. Er lässt die Seele sich mit diesen kleinen Tröstungen abgeben und will damit erreichen, dass sie damit zufrieden sei und nicht mehr nach einer ernsten und soliden Frömmigkeit strebe, die in einem festen und entschlossenen, stets bereiten und tätigen Willen besteht, alles auszuführen, was sie als Gott wohlgefällig erkennt.
Ein Kind wird weinen, wenn es sieht, wie man der Mutter mit einem Schnitt zur Ader lässt; verlangt aber die Mutter zur gleichen Zeit von ihm einen Apfel oder ein Stück Zucker, das es in der Hand hält, so wird es nichts davon hergeben. So sind auch zumeist diese zärtlichen Frömmeleien: man weint und schluchzt, wenn man das Herz Jesu von einer Lanze durchbohrt sieht. Ja, es ist gewiss schön, wenn man das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn und Erlösers beweint; aber warum geben wir ihm nicht den Apfel, den wir in der Hand halten, den er von uns so inständig verlangt, nämlich unser Herz, den einzigen Liebesapfel, den dieser treue Heiland von uns fordert? Warum verzichten wir nicht auf die kleinen Neigungen, Freuden und Befriedigungen, die er uns aus der Hand nehmen möchte und nicht kann, weil sie unsere Süßigkeit sind, nach der wir gieriger verlangen als nach seiner himmlischen Gnade? Ach, das sind Freundschaften von kleinen Kindern, zärtlich aber schwach, phantastisch aber wirkungslos! Die Frömmigkeit besteht nicht in diesen Zärtlichkeiten, in diesem Gefühlsüberschwang; das alles entstammt zuweilen einem weichen und empfindsamen Charakter, zuweilen kommt es vom bösen Feind; er will, dass wir damit herumtändeln, deshalb erregt und erhitzt er unsere Phantasie so lange, bis sie diese Wirkungen hervorbringt.
2. Diese zärtlichen Liebesregungen sind aber zuweilen doch sehr gut und nützlich. Sie wecken den Hunger der Seele, stärken den Geist und fügen zur Bereitschaft der Frömmigkeit noch heilige Freude und inneren Jubel hinzu, die unseren Handlungen Schönheit und Anmut nach außen verleihen.
Freude an göttlichen Dingen meint David, wenn er betet: „Herr, Deine Worte sind süß meinem Mund, süßer als Honig meinem Gaumen“ (Ps 119,103). Ja, die geringste Regung der Freude in der Frömmigkeit wiegt in jeder Hinsicht die glänzendsten Vergnügungen auf, wie sie die Welt bieten kann. Köstlicher als der kostbarste Wein irdischer Freuden ist die Milch, d. h. die Gunst des göttlichen Bräutigams (vgl. Hld 1,1). Wer sie verkostet hat, dem sind alle anderen Freuden wie Galle und Wermut. Wer Skythenkraut im Mund hat, empfindet es so angenehm, dass er weder Hunger noch Durst verspürt. So kann auch jener, dem Gott dieses himmlische Manna innerer Süßigkeit und Freude zu kosten gab, die Freuden der Welt nicht mehr wünschen und genießen, jedenfalls keinen Geschmack daran finden und noch weniger sein Herz daran hängen.
Diese geistlichen Freuden sind ein Vorgeschmack der unsterblichen Freuden, die Gott denen schenkt, die ihn suchen. Sie sind Zuckerstücklein, die er seinen kleinen Kindern gibt, um sie zu locken; herzstärkende Wasser, um sie zu kräftigen, ein Vorgeschmack des ewigen Lohnes. Alexander der Große soll auf seiner Seefahrt die Nähe Arabiens aus den feinen Düften geschlossen haben, die der Wind ihm zutrug, und konnte darauf seinen Gefährten neuen Mut zusprechen. So empfangen auch wir oft Süßigkeiten und Freuden auf dem Meer des sterblichen Lebens, damit sie uns die Wonnen des himmlischen Vaterlandes ahnen lassen, nach denen unser Sinnen und Trachten geht.
3. Du wirst nun sagen: Es gibt also fühlbare geistliche Freuden, die gut sind und von Gott kommen, aber auch solche, die unnütz, gefährlich und sogar schädlich sind und von unserer Natur oder vom bösen Feind kommen. Wie kann ich sie voneinander unterscheiden?
„An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen“ (Mt 7,16). Das ist ein allgemeiner Grundsatz, der auch für unsere Affekte und Leidenschaften gilt. Vergleichen wir unser Herz mit einem Baum, dann sind die Affekte und Leidenschaften seine Äste, die Werke und Handlungen seine Früchte. Das Herz ist gut, wenn es gute Affekte hervorbringt, und die Affekte und Leidenschaften sind gut, wenn sie in uns gute Wirkungen und heilige Taten sprießen lassen. Machen uns diese zärtlichen Liebesgefühle und geistlichen Freuden demütiger, geduldiger, verträglicher, liebevoller und barmherziger mit unseren Mitmenschen, machen sie uns eifriger, unsere Begierlichkeiten und  schlechten Neigungen zu überwinden, werden wir durch sie in unseren Übungen noch ausdauernder, lenksamer und williger gegen unsere Vorgesetzten und einfacher in unserem Leben, dann sind diese geistlichen Freuden von Gott. Behalten wir dagegen diese Süße der geistlichen Freuden für uns, machen sie uns den anderen gegenüber sonderlich, bitter, pedantisch, ungeduldig, bockbeinig, stolz, anmaßend und hartherzig, halten wir uns ihretwegen schon für kleine Heilige, so dass wir uns nicht mehr führen und bessern lassen wollen, dann sind diese inneren Tröstungen ohne Zweifel falsch und verderblich. „Ein guter Baum bringt nur gute Früchte hervor“ (Mt 7,17).
4. Haben wir solche geistlichen Freudegefühle und Tröstungen, dann müssen wir uns erstens vor Gott demütigen. Hüten wir uns wohl, uns einzureden: Wie gut bin ich doch! Nein, diese Güter machen uns nicht besser; wie schon gesagt, darin besteht die Frömmigkeit nicht. Sagen wir uns vielmehr: Wie gut ist doch Gott gegen den, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht! (vgl. Klgl 3,25). Wer Zucker im Mund hat, kann nicht von seinem Mund sagen, dass er süß sei, sondern nur vom Zucker. So kann man auch nur sagen, dass diese geistliche Freude gut ist und Gott, der sie schenkt, nicht aber jener, der sie erhält.
Zweitens müssen wir anerkennen, dass wir noch kleine Kinder sind, die der Milch bedürfen. Gott gibt uns Süßigkeiten, weil unser Geist noch recht zart ist und solche Mittel braucht, um zur Gottesliebe hingezogen zu werden.
Drittens müssen wir im allgemeinen und für gewöhnlich diese Gnaden und Gunsterweise demütig annehmen und hochschätzen, nicht ihres eigenen Wertes wegen, sondern weil sie aus der Hand Gottes kommen, der sie uns ins Herz senkt, wie eine Mutter ihrem Kind ein Stückchen Zucker nach dem anderen in den Mund steckt, um es zu beruhigen. Könnte das Kind überlegen, so würde es mehr die zärtliche Liebe der Mutter schätzen als die Süßigkeit des Zuckers. So ist es sicher viel, diese süßen Gefühle kosten zu dürfen, aber welch ungleich größere Wonne ist es, wenn wir beherzigen, dass Gott es ist, der sie uns liebevoll und mütterlich auf die Lippen, in Herz und Geist legt.
Viertens: Haben wir sie also in demütiger Gesinnung angenommen, dann werten wir sie sorgfältig nach der Absicht des Spenders aus. Warum wohl schenkt Gott uns diese gute Empfindung? Doch nur deshalb, damit wir auch selbst gegen alle gut seien und sie inniger lieben. Die Mutter schenkt dem Kind ein Stückchen Zucker, damit es ihr einen Kuss gebe. Ähnlich soll auch unser Verhalten dem Heiland gegenüber sein, wenn er uns Süßigkeit gibt. Den Heiland küssen heißt aber, ihm gehorchen, seine Gebote halten, seinen Willen tun, seine Wünsche erfüllen, mit einem Wort, ihn liebevoll umarmen, ihm treu gehorchen. Wurde uns also eine geistliche Freude geschenkt, so müssen wir uns an diesem Tag noch mehr als sonst bemühen, alles recht gut zu machen und in demütiger Gesinnung zu verharren.
Fünftens müssen wir außerdem von Zeit zu Zeit auf diese süßen, zärtlichen und tröstlichen Gefühle Verzicht leisten, indem wir unser Herz von ihnen losschälen und beteuern, dass wir sie wohl in Demut gern annehmen, weil Gott sie uns schickt und sie uns zu größerer Gottesliebe anregen, dass wir uns aber trotzdem nicht nach ihnen sehnen, sondern nach Gott und seiner heiligen Liebe: nicht nach der Tröstung, sondern nach dem Tröster, nicht nach süßen Gefühlen, sondern nach dem gütigen Heiland, nicht nach zärtlichen Empfindungen, sondern nach dem, der die Freude des Himmels und der Erde ist. In dieser Gesinnung müssen wir uns rüsten, fest in der heiligen Liebe zu Gott zu verharren. Sollten wir auch nie mehr in unserem Leben irgendwelche seelischen Freuden empfangen, so müssen wir lernen, auf dem Kalvarienberg ebenso wie auf dem Tabor zu sagen: „Herr, hier ist gut sein mit Dir, ob Du am Kreuz oder in der Glorie bist“ (vgl. Mt 17,4).
Zum Schluss möchte ich dich aufmerksam machen, dass du es gewissenhaft deinem Seelenführer mitteilst, falls eine außerordentliche Fülle freudiger, zärtlicher Gefühle, Tränen und süßer Empfindungen oder sonst etwas Außergewöhnliches über dich kommen sollte. So wirst du lernen, dich auch dabei zu mäßigen und richtig zu verhalten, denn es steht geschrieben: „Hast du Honig gefunden, so iss davon nur, soviel dir gut tut“ (Spr 25,16).

HOME | VORIGES KAPITEL | INHALT | NÄCHSTES KAPITEL

NACH OBEN