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  8. Kapitel
    Nützliche  Ratschläge für die Betrachtung. 
  1. Es ist vor allem notwendig, dass du nach der Betrachtung die  Entschlüsse, die du in ihrem Verlauf gefasst hast, festhältst und  tagsüber sorgfältig ausführst. Sie sind ja die große Frucht der  Betrachtung, ohne die sie nicht nur unnütz, sondern oft sogar schädlich ist,  weil bloß betrachtete, aber nicht geübte Tugenden Geist und Herz nur aufblähen.  Man meint dann, das zu sein, wozu man sich entschlossen hat; das stimmt dann,  wenn die Entschlüsse lebendig und fest sind; das sind sie aber nicht, sondern  eitel und gefährlich, wenn sie nicht ausgeführt werden. Deshalb muss man sich  auf jede Weise bemühen, sie auszuführen, und dazu die Gelegenheiten suchen, die  großen wie die kleinen.
    Habe ich mir z. B. vorgenommen, durch Güte jene zu gewinnen,  die mich beleidigt haben, so suche ich an diesem Tag den Betreffenden zu  begegnen, um sie freundlich zu grüßen; kann ich sie nicht treffen, dann will  ich wenigstens gut von ihnen sprechen und für sie beten.
    2. Nach der Betrachtung musst du dich in Acht nehmen, deinem  Herzen keinen Stoß zu versetzen; damit würdest du das Kostbare verschütten, das  du durch die Betrachtung gewonnen hast. Ich will sagen: Bleib eine Zeit lang  still, wende dich ganz ruhig vom Gebet zur Arbeit hin und halte, solange  es dir möglich ist, die Stimmung und Affekte fest, die du empfangen hast.
    Wer in einem schönen Porzellangefäß eine kostbare  Flüssigkeit nach Hause trägt, wird gewiss vorsichtig gehen, nicht seitwärts,  sondern vor sich hin schauen, um nicht über einen Stein zu stolpern oder einen  Fehltritt zu machen; er wird auf das Gefäß schauen, ob er es auch gerade hält.  So handle auch du nach der Betrachtung. Zerstreue dich nicht sogleich, sondern  schau ruhig vor dich hin. Triffst du jemand, mit dem du sprechen musst, so tu  es ruhig, schau aber zugleich auf dein Herz, damit die kostbare Flüssigkeit  deiner Geistessammlung so wenig wie möglich ausfließe.
    3. Du musst auch lernen, vom Gebet zu jeder Arbeit  überzugehen, die dein Beruf und Stand verlangen, auch wenn sie weitab von  den Affekten deiner Betrachtung liegt. So muss der Rechtsanwalt nach der  Betrachtung an die Prozessrede gehen, der Kaufmann zu seinem Geschäft, die  verheiratete Frau an ihre Ehepflichten und häuslichen Arbeiten, – und das so  ruhig und friedlich, dass es keine Störung im Seelenleben gibt. Das eine wie  das andere ist ja Gottes Wille, darum muss man auch im Geist der Demut und  Frömmigkeit vom einen zum anderen übergehen können.
    4. Zuweilen wird es vorkommen, dass dein Herz sogleich nach  der Vorbereitung ganz von Gott ergriffen und bewegt ist. Dann überlass dich  ruhig diesem Zug ohne Rücksicht auf die Methode, die ich dir gegeben habe. Für  gewöhnlich soll wohl die Erwägung den Affekten vorausgehen; gibt aber der  Heilige Geist Affekte vor der Erwägung, so bemühe dich nicht um Erwägungen,  denn sie dienen doch nur dazu, Affekte hervorzurufen. Mit einem Wort: Sei  jederzeit bereit, die Affekte aufzunehmen, ob sie sich nun vor oder nach  den Erwägungen einstellen.
    Wenn ich die Affekte nach den Erwägungen eingereiht habe, so  geschah es nur, um die einzelnen Bausteine der Betrachtung besser darzustellen.  Allgemein jedoch gilt die Regel: Man darf die Affekte nicht zurückdrängen,  sondern muss ihnen freien Lauf lassen, sobald sie sich einstellen. – Das sage  ich nicht nur von den Affekten, sondern auch vom Dankgebet, der Aufopferung,  dem Bittgebet, die ebenso während der Erwägung verrichtet werden können. Man  darf sie ebenso wenig zurückhalten wie die Affekte, wenn man sie auch am Schluss  der Betrachtung noch einmal erwecken soll. Die Entschlüsse soll man erst nach  den Affekten am Ende der Betrachtung fassen; da wir uns hierzu unsere  alltäglichen persönlichen Lebensverhältnisse vergegenwärtigen müssen, bestünde  die Gefahr der Zerstreuung, wollte man sie während der Affekte fassen.
    5. Bei den Affekten und Entschlüssen ist es gut, mit dem  Heiland zu sprechen oder mit den Engeln oder mit den Personen, die in dem  Geheimnis vorkommen, mit den Heiligen oder auch mit sich selbst, d. h. mit  seinem eigenen Herzen. Man kann auch die Sünder ansprechen und sogar die  vernunftlose Kreatur, wie wir es in den Psalmen Davids oder in den Gebeten und  Betrachtungen der Heiligen finden.
   
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