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  1. Kapitel
    Notwendigkeit  des Gebetes.
  1. Nichts ist geeigneter, unseren Verstand von  Unwissenheit und unseren Willen von seinen verderbten Anhänglichkeiten zu  reinigen, als das Gebet, das unseren Verstand in die Helle göttlichen Lichtes  rückt und unseren Willen der Wärme göttlicher Liebe aussetzt.
    Das Gebet ist die segensreiche Quelle, deren belebende  Wasser die Pflänzchen unserer guten Wünsche zum Grünen und Blühen bringen,  jeden Makel von unserer Seele hinwegspülen und das von Leidenschaft erhitzte  Herz abkühlen.
    2. Vor allem aber empfehle ich dir das Gebet des Geistes  und des Herzens, ganz besonders jenes, das zum Gegenstand das Leben und  Leiden des Heilands hat. Wenn du ihn oft betrachtest, wird deine Seele von ihm  erfüllt, du lernst seine Art und Weise kennen und deine Handlungen nach den  seinen formen.
    Er ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und für ihn  müssen wir folglich erleuchtet werden. Er ist die sprudelnde Jakobsquelle (Joh  4,6), die uns von jedem Makel reinwäscht.
    Kinder lernen sprechen, indem sie der Mutter zuhören und  alles nachzusprechen versuchen; so werden auch wir, wenn wir durch die  Betrachtung beim Heiland weilen, seine Worte und Handlungen, sein Denken und  Fühlen beobachten, bald durch seine Gnade reden, handeln und wollen lernen wie  er selbst.
    Glaube mir, wir können zu Gott dem Vater nur durch diese  Pforte (Joh 14,6) gehen; denn wie der Spiegel unser Bild nicht auffinge, hätte  er nicht eine Schicht Zinn oder Blei auf seiner Rückseite, so könnten auch wir  auf Erden nicht die Gottheit betrachten, wäre sie nicht mit der heiligen  Menschheit des Heilands verbunden, dessen Leben und Sterben der geeignetste,  schönste und nützlichste Gegenstand für unsere gewöhnliche Betrachtung ist.
    Der Heiland nennt sich nicht ohne Grund das Brot, das vom  Himmel herabgekommen ist (Joh 6,1); denn wie das Brot zu jeder Speise genossen  wird, so sollen auch wir den Heiland in all unseren Gebeten und Handlungen  betrachten, ansehen und suchen. Sein Leben und Sterben wurde von  verschiedenen Schriftstellern in Betrachtungen vorgelegt, so von Bonaventura,  Bellintani, Bruno, Capiglia, Granada, de Ponte.
    3. Verwende darauf täglich eine Stunde vormittags, womöglich  am Morgen; nach der Nachtruhe ist dein Geist beweglicher und frischer. Verwende  nicht mehr als eine Stunde darauf, außer dein geistlicher Vater bestimmt es  ausdrücklich anders.
    4. Kannst du diese Übung in der Kirche halten und findest du  dort genug Ruhe, dann wird dies am leichtesten und bequemsten für dich sein,  denn dort kann dich niemand stören, nicht Vater, Mutter, nicht Gattin oder  Gatte, noch sonst jemand, während du zu Hause wohl kaum eine ruhige Stunde  finden wirst.
    5. Beginne jedes Gebet, das innerliche wie das mündliche,  damit, dich in Gottes Gegenwart zu versetzen. Daran halte dich ausnahmslos, du  wirst bald sehen, wie nützlich dir dies sein wird.
    6. Lerne das Vater unser, Gegrüßet seist du Maria und das  Glaubensbekenntnis auch lateinisch beten. Du musst aber zugleich sehen, dass du  die Worte auch verstehst, die du betest; so musst du beides vereinen: das Beten  in der Sprache der Kirche und das Verkosten des wundersamen und erquickenden  Sinnes dieser heiligen Gebete. Dringe beim Beten mit deinem Geist tief in  diesen Sinn ein, begleite es mit innigen Bewegungen des Herzens. Bete nicht  hastig, um recht viel beten zu können, sondern bemühe dich, was du betest,  von Herzen zu beten. Ein Vater unser innig gebetet ist mehr wert, als viele  rasch und eilfertig heruntergeleiert.
    7. Der Rosenkranz ist eine sehr nützliche Gebetsform,  vorausgesetzt, dass du ihn richtig zu beten verstehst. Bediene dich dazu einer  guten Anleitung. Es ist auch gut, die gebräuchlichen Litaneien und andere  mündliche Gebete zu beten. Hast du aber die Gabe des innerlichen Gebetes, so  soll dieses den Vorrang haben. Kannst du danach wegen deiner vielen Arbeit oder  aus einem anderen Grund keine mündlichen Gebete mehr verrichten, so mach dir  darüber keine Sorgen, sondern begnüge dich mit einem Vater unser, dem Gegrüßet  seist du Maria und dem Glaubensbekenntnis vor oder nach der Betrachtung.
    8. Fühlst du dich während des mündlichen Gebetes zum inneren  Gebet hingezogen, dann sträube dich nicht dagegen, sondern lass deinen Geist  sich ruhig dorthin wenden und sei unbesorgt um dein unvollendetes mündliches  Gebet, denn das Geistesgebet ist Gott angenehmer und deiner Seele  nützlicher. Ich nehme freilich das kirchliche Stundengebet aus, wenn du  dazu verpflichtet bist, denn diese Pflicht hat den Vorrang.
    9. War es dir morgens wegen zu vieler Arbeit oder aus einem  anderen Grund nicht möglich, deine Betrachtung zu halten (was möglichst selten  vorkommen soll), dann hol es im Laufe des Nachmittags nach – aber nicht gleich  nach dem Essen; während der Verdauungszeit könnte dich der Schlaf überwältigen,  auch deiner Gesundheit wäre das nicht förderlich. Ist es dir den ganzen Tag  nicht möglich, die Betrachtung nachzuholen, dann ersetze sie durch häufige  Stoßgebete und durch die Lesung eines frommen Buches. Lege dir eine Bußübung  auf, um in Zukunft diesen Fehler zu vermeiden, und sei fest entschlossen, am  nächsten Tag die Betrachtung bestimmt einzuhalten.
   
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