From Franz von Sales

Lexikon: A-Z :: Hingabe

Die Hingabe –

die Tugend der wahren Selbstverwirklichung

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  1. 1. Mein Wesen entfalten
  2. 2. Ein Leben der Hingabe
  3. 3. Hingabe an Gott und die Menschen
  4. 4. FRAGEN ZUM NACHDENKEN

Je mehr das Wort „Hingabe“ in den Schrank altmodischer Tugendbegriffe gewandert ist, desto moderner wurde der Begriff „Selbstverwirklichung“. Trotzdem drücken beiden Begriffe letztlich eine einzige Tugend aus: die Hingabe ist nämlich die richtige Art der Selbstverwirklichung.

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1.  Mein Wesen entfalten

Was bedeutet Selbstverwirklichung? Diese Tugend versucht, seine eigenen Ziele, Sehnsüchte, Wünsche und Vorstellungen so gut es geht zu verwirklichen, um – wie es der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900) einmal formulierte – „das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen.“
Es geht also um mein Wesen, mein Selbst, mein Ich, das ich durch die Tugend der Selbstverwirklichung zur Blüte und Reife bringe. Positiv gesehen kann ich also für das Wort Selbstverwirklichung auch den Begriff „Selbstliebe“ verwenden, eines der Hauptgebote, das Jesus Christus uns lehrt (Mk 12,31). Negativ betrachtet schwingt allerdings auch eine große Gefahr mit, nämlich der Egoismus, der das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt, dem sich alle und alles unterzuordnen haben. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, lautet das Hauptgebot Gottes nicht einfach: „Liebe dich selbst!“, sondern: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Jesus Christus meint damit: Selbstliebe ist etwas sehr Wichtiges. Sie ist genauso notwendig wie die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Aber: Wahre Selbstliebe wird nur zusammen mit Nächstenliebe möglich. Der Andere, dessen Ziele, Sehsüchte, Wünsche und Vorstellungen gehören wesentlich zur Selbstliebe dazu. Ohne den Anderen verkümmert Selbstliebe zu Egoismus. Für die Tugend der Selbstverwirklichung gilt: Sich selbst verwirklichen, sein eigenes Wesen zur vollen Entfaltung bringen, ist nur möglich, wenn ich das Wesen der Anderen mitberücksichtige.
In der Bergpredigt fasst Jesus Christus diese wahre Selbstverwirklichung in der „Goldenen Regel“ zusammen: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 5,12).

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2.  Ein Leben der Hingabe

Diese Art wahrer Selbstverwirklichung trägt in der biblisch-christlichen Tradition jedoch einen anderen Namen: Hingabe. Jesus Christus ist das große Vorbild dieser uralten Tugend, die uns zur wahren und echten Selbstverwirklichung führt. Es gibt zahlreiche klassische Jesus-Worte, die diese Tugend beschreiben: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). – „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren, wer aber das Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen“ (Mt 10,39). – „Es gibt keine größer Liebe also die, wenn einer sein Leben gibt für seine Freunde“ (Joh 15,13).
Das Leben Jesu selbst war ein Leben der Hingabe. Der Christushymnus des Apostels Paulus aus seinem Brief an die Philipper beschreibt diesen jesuanischen Weg einzigartiger Selbstverwirklichung. Paulus stellt diesen Weg als Vorbild für unser eigenes Leben dar und beginnt ihn mit den Sätzen: „Schätze den anderen höher ein als dich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen. Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht …“. Dieser Jesus war Gott. Er verzichtete jedoch darauf und wurde Mensch, ja noch mehr, er wurde „wie ein Sklave“. Aus Liebe zu den Menschen verzichtete Jesus auf sein eigenes Leben. Er gab sein Leben am Kreuz, damit die anderen leben können. „Daher“, so schließt Paulus „hat Gott ihn über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen: Jesus Christus ist der Herr.“ (vgl. Phil 2,3-11).
Im Sinne wahrer Selbstverwirklichung ist daher auch Jesu Aufforderung zur Kreuzesnachfolge richtig verstanden: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Lk 9,23). Missverstanden wird dieser Satz, wenn ich meine, Jesus möchte, dass wir auf all unsere eigenen Sehnsüchte, Wünsche, Vorstellungen und Ziele verzichten. Jesus will nicht, dass wir uns selbst verwirklichen, sondern er will, dass wir uns selbst verleugnen. Er will nicht, dass wir Leben, er will, dass wir von allen gekreuzigt werden. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Er sagt ja auch: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Jesus ist jedoch davon überzeugt und er hat diese Überzeugung bis zum Äußersten gelebt, dass wahre Selbstverwirklichung, wahres „Leben in Fülle“ nur durch Hingabe möglich ist. Daher gehören diese beiden Tugenden der Hingabe und der Selbstverwirklichung wesentlich zusammen, denn nur gemeinsam können sie als wahre Tugend gelebt werden, als ein Geschenk Gottes, das andere Menschen und uns selbst glücklich macht.
Eine falsch verstandene Hingabe etwa wäre die totale Selbstaufgabe. Mein Wesen ist völlig egal. Es ist egal, welche Wünsche und Ziele ich habe, es ist egal, ob es mir gut oder schlecht geht. Es ist egal, ob ich mich selbst liebe oder nicht. Gegen diese Untugend hilft die Tugend der Selbstverwirklichung. Gegen die Untugend des Egoismus hilft die Hingabe. So schreibt der verstorbene Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Georg Moser (1923-1988), in seinem Buch „Auf dem Weg zu mir selbst“: „Sich selbst verwirklichen ist etwas anderes als den eigenen Kopf durchzusetzen. Wer Selbstverwirklichung mit Egozentrik verwechselt, wer nur sein Ich im Sinn hat, der zielt gewaltig daneben … Selbstverwirklichung gibt es nicht auf Kosten der anderen; es gibt sie nur in der Offenheit für die anderen, letztlich nur in der Hingabe an Gott und die Menschen.“

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3.  Hingabe an Gott und die Menschen

Genauso sieht es der hl. Franz von Sales (1567-1622), Bischof der Diözese Genf-Annecy. Zu seiner Zeit, also vor 400 Jahren, gab es den Begriff Selbstverwirklichung noch nicht. Er wurde erst von der Psychologie des 20. Jahrhunderts eingeführt, z.B. durch Abraham Maslow (1908-1970), der Selbstverwirklichung zu den fünf wesentlichen Grundbedürfnissen des Menschen zählt. Das Wort Hinhabe an Gott und die Menschen war Franz von Sales jedoch sehr wohl bekannt. Seine persönlichste Erfahrung der Hingabe hatte er bei seiner Bischofsweihe 1602. Er beschrieb diese Erfahrung zehn Jahre später mit folgenden Worten: „Gott hat mich mir selbst genommen, um mich ihm zu geben, und dann gab er mich an die Menschen zurück. Das heißt, er wandelte mich von dem, was ich für mich selbst war, zu dem um, was ich für andere sein sollte“ (DASal 5,247). Durch diese Erfahrung der Hingabe gelangte Franz von Sales zur wahren Tugend der Selbstverwirklichung. Es wurde ihm der letzte Hang zum Egoismus entrissen. Von nun an fühlte er sich ganz an Gott und die Menschen verschenkt, für die er als Bischof da sein soll. Aus dieser Erfahrung heraus legte er den Menschen immer wieder ans Herz, mehr an das Wohl der anderen zu denken, nicht damit das eigene Wohl gar nicht mehr zum Zug kommt, sondern damit man sich in seiner eigenen Haut noch wohler fühlt als vorher.
Die wichtigste Hingabe, die Franz von Sales nennt, ist die Hingabe an den Willen Gottes. In der Erfahrung seiner Bischofsweihe beschreibt er dies mit den Worten: „Gott nahm mich mir selbst“. Für andere und für sich selbst da sein kann ich letztlich nur dann wirklich, wenn ich mich ganz dem Willen Gottes überlasse. Für Franz von Sales besteht wahre Selbstverwirklichung nicht nur in der Hingabe an die Menschen, sondern vor allem und zuerst in der Hingabe an den Willen Gottes. Nur die Gott liebende Seele wird in rechter Weise sich selbst und die anderen lieben. Seine Empfehlung ist daher: Wenn Sie wirklich glücklich werden wollen, wenn Sie sich wirklich selbst voll und ganz verwirklichen wollen, dann lieben Sie Gott aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft: „Ich sage Ihnen noch einmal, Sie werden glücklich sein, wenn Sie sich Gott ganz und ohne jedem Vorbehalt schenken“ (DASal 12,293). In dieser Hingabe an Gott und seinem Willen liegt die Wurzel aller wahren Hingabe und Selbstverwirklichung begründet.

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4.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

Herbert Winklehner OSFS


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